Drei lange Jahre ist es her, dass die Regensburger Band „Scherbenviertel“ beim filterVerlag zu Besuch war. Seitdem hat sich so einiges geändert – unter anderem die Konstellation, in der Scherbenviertel ihr drittes Album „Heimweg“ aufgenommen hat. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, wohin der Heimweg weiter führt?
Verruchte Texte, ein ruppiger Sound und Geschichten, wie sie nur das echte Leben schreiben kann: Dafür waren Scherbenviertel – getreu ihrem Bandnamen – schon immer bekannt. Daran wird sich auch in nächster Zeit nichts ändern, eher noch im Gegenteil! Auch mit ihrem neuen Album beweist die Band rund um Frontfrau Tanja Bindl und Liederdichter Simon Schmidt, dass sie keinerlei Absicht haben, die Storys ihrer Songs auch nur in irgendeiner Manier zu beschönigen. Und auch wenn viele der Texte beim ordentlichen Zuhören schroff und vielleicht auch etwas platt wirken, sorgen die eingängigen Melodien dafür, dass sie doch im Kopf des Publikums bleiben.
Ein neuer rockiger Heimatsound
Dafür gesorgt, dass die Songs auch zu den Ohrwürmern wurden, die sie letztendlich geworden sind, hat unter anderem auch die Neuaufstellung der Band. Besonders über die Zither im festen Repertoire der Band herrscht große Freude: Gründungsmitglied Simon Schmidt betont, dass die Verbindung der Zither mit dem rockigen und teils schon punkigen Einschlag der Songs etwas ist, das Scherbenviertel ausmacht. „Da kann man sagen, mia ham an neuen Sound entwickelt“, erklärt Schmidt im Gespräch. Mindestens genauso bedeutsam sei für ihn aber, dass jedes Instrument gleich wichtig ist. Niemand wolle sich in den Vordergrund drängen. „Das musst du schon auch erst mal ham, dass da sechs Leute in der Band san, wo auch der E-Gitarrist mal sagt ‚Zither, komm du vor!‘“, beschreiben Bindl und Schmidt die Harmonie in der Band. Selbstverständlich würde nicht alles reibungslos ablaufen, aber am Ende gelte dennoch ein „Alles für die Band“, erklärt Tanja. Das Zusammenspiel zwischen Bastian Schindler an der Zither, Andreas Mayer am Bass, Lukas Brenner am Schlagzeug und Manuel Wagner an der E-Gitarre ist die perfekte Ausgangssituation, damit Scherbenviertel das Potential für „ihren“ Sound endlich voll ausschöpfen können. Und in dieser Konstellation sieht sich auch Frontfrau Tanja selbst als Instrument, das zum Klang beiträgt, aber selbstverständlich immer mit eigenem Twist.„Es geht viel mehr ums Scherbenviertel in jedem Menschen“
Aber nicht nur an der tatsächlichen Musik hat sich einiges geändert, auch die Texte haben sich weiterentwickelt. Auf ihrem dritten Album „Heimweg“ hat sich die Band dazu entschlossen, nur noch deutschsprachige Texte aufzunehmen. Um ganz genau zu sein, wird einzig und allein auf Bairisch gesungen. Das war Simon auch sehr wichtig, denn im Dialekt zu schreiben und zu singen, bedeutet für ihn, die lokale Sprache zu pflegen. Tanja betont auch, dass sich das Publikum viel eher mit dem Gesungenen identifizieren kann, wenn es der eigenen Sprache näher ist. Es sei eine unglaubliche Erfahrung, zu sehen, wie Menschen von ihren Songs berührt werden, teilweise seien bei den Konzerten der Band auch Tränen geflossen, erzählen die Mitglieder.Das liegt sicherlich nicht nur daran, dass die Sprache der Lieder so an den eigenen Alltag der Hörer erinnert. Denn Simon traut sich in seinen Texten an Themen heran, die so manch anderer wohl lieber meiden würde. Aber ihm liegt am Herzen, auch die grausigen Seiten des Lebens zu behandeln. Viele Zuhörer nehmen „Scherbenviertel“ als Bandnamen sehr wörtlich und denken an die realexistenten Problemstadtteile, über die berichtet wird, aber „es geht viel mehr ums Scherbenviertel in jedem Menschen“, sinniert Simon über die Absicht hinter dem Bandnamen. Simon möchte den Mikrokosmos und das jeweilige Scherbenviertel in jeder Person ansprechen und dazu gehört, die unschönen Seiten einer Persönlichkeit aufzudecken. So zum Beispiel im Lied „Fritzl“ und dem dazugehörigen Musikvideo. Schmidt arbeitet in diesem Text den Fall des Josef Fritzl auf, der für über 20 Jahre seine eigene Tochter im Keller festhielt und mehrfach vergewaltigte, sodass sieben Kinder als Ergebnis des Inzests auf die Welt kamen. Diese Geschichte hat Simon sehr lange beschäftigt, gerade weil er die Aufarbeitung in den Medien als unzureichend empfand. Nachdem Fritzl sich im Gefängnis aus Selbstschutz einen neuen Nachnamen gegeben hatte, beschloss Schmidt seinen Text zu verfassen, damit die Gräueltaten nicht in Vergessenheit geraten. Das Feedback zu dieser Art der Verarbeitung war natürlich nicht durchwegs positiv: Manchen Sachen solle man keine Aufmerksamkeit mehr bieten, lautet der Rat, den Simon von einigen Zuhörern bekommen hat. Allerdings überwiegt an dieser Stelle die Absicht, die Täter nicht aus der Verantwortung zu ziehen und die Erinnerung an diese Geschichten am Leben zu erhalten, findet das Gründungsmitglied von Scherbenviertel.
Auf dem Heimweg: Wie geht’s weiter für Scherbenviertel?
Auch andere Themen auf „Heimweg“ werden den Zuhörern sicherlich aus der letzten Zeit bekannt vorkommen: Einsamkeit und Machtlosigkeit werden immer wieder in den neuen Songs angesprochen. Allerdings stammen die Texte aus einer Zeit vor den Lockdowns und Scherbenviertel hat versucht, die vergangenen Monate so gut wie möglich auszunutzen. „Einsam hab ich mich jetzt eigentlich nie g’fühlt“, erklärt Simon. Und das verwundert auch nicht: Denn die Band hat ihre Zeit damit verbracht, die Songs im Tonstudio ihres Bassisten Andreas Mayer aufzunehmen, damit trotz jeder Hürde das neue Album endlich veröffentlicht werden kann. Das Ergebnis jetzt endlich in den Händen halten zu können, ist ein reines Glücksgefühl für die Bandmitglieder.Das war aber nicht der einzige Fortschritt, den Scherbenviertel während der Pandemie verzeichnen konnten: Gemeinsam mit ihrem Videografen Patrick Karl haben sie das bisher aufwendigste und professionellste Musikvideo ihrer Karriere gedreht. Das Video für „Fritzl“ zu drehen, war eine der anstrengendsten und gleichzeitig aufregendsten Erfahrungen, die die Band gemeinsam machen durfte. Dem Endergebnis sieht man auch die Mühe an, die reingesteckt wurde: Mit Simon Schmidt in der Rolle des Josef Fritzl wird die Geschichte eines herrischen „Band-Diktators“ erzählt, der die übrigen Bandmitglieder gefangen hält und zur Performance zwingt. Mit einem Zwinkern erklärt Frontfrau Tanja, dass dieses Bild der Realität natürlich in keinster Weise ähnelt.
Aber trotz aller Erfolge war die Zeit während Corona nicht problemfrei für die Regensburger Kunstschaffenden – die vielen (oft auch spontanen) Live-Gigs fielen aus und auch Livestream-Konzerte, beispielsweise im Rahmen der Kulturhelden-Initiative, seien „doch einfach auch nicht das Wahre“. Die Band zeigt sich dennoch optimistisch und konzentriert sich lieber auf die Pläne für die Zukunft, statt verpassten Gelegenheiten nachzuweinen: das Release-Konzert in der Alten Mälzerei, ein versautes Weihnachtsalbum, neue Einflüsse der Achtziger in den Songs – die Ideen sind schier endlos. In der jetzigen Konstellation sei man endlich dort angekommen, wo man schon immer sein wollte, und man könne den echten Sound auf die Bühne bringen. Darüber sind sich Tanja und Simon einig. Jetzt gilt es, jeden Auftritt und jede Chance mitzunehmen, die sich ihnen bietet. Ist der Heimweg also eben erst vollbracht und die Band startet gleich wieder los? Simon erklärt, dass der Heimweg durchaus als Suche nach einem Zuhause gedacht war. Gleichzeitig betont er aber auch das „weg“ vom Heimweg: Denn jetzt geht es für die Band weg vom Bekannten und auf zu neuen Ufern. Das Cover des neuen Albums ziert daher auch ein Bild vom letzten Live-Auftritt vor der Pandemie: Sänger Simon wollte hinten auf das Rad seines Bandkollegen Bastian springen, hat aber das komplette Hinterrad verbogen. Und so entstand das Symbolbild einer durchzechten Nacht, wie sie uns allen bekannt vorkommt – man macht sich mit einigen Schäden auf den Heimweg, aber das war’s einem wert.
Wer in das neue Album reinhören möchte, darf sich auf den 11. September freuen: Nicht nur kommt an diesem Datum „Heimweg“ offiziell raus, es findet auch ein Release-Konzert in der Alten Mälzerei statt. Tickets können online gekauft werden und werden zurückerstattet, sollte das Konzert wegen einer Änderung der Corona-Maßnahmen nicht stattfinden können.