"Und was uns unser seelisches Gleichgewicht erhält,
das ist mit einem Wort gesagt: Tradition!"
Mit diesen Worten beginnt das Eröffnungslied des weltweit bekannten Musicals „Anatevka“ (engl. „Fiddler on the Roof“). In „Anatevka“ geht es um ein jüdisches Schtetl – also ein kleines Dorf –, in dem die Bewohner und Bewohnerinnen viel Wert auf ihre Traditionen legen. Zumindest so lange, bis die jüngste Generation auf einmal alle Traditionen über Bord wirft, wie es für den jugendlichen Sturm und Drang so üblich ist. Aber ist das tatsächlich der Fall? Welchen Stellenwert hat Tradition in einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft noch inne? Und welche Traditionen werden in Regensburg, der Oberpfalz und Bayern noch gehegt und gepflegt?das ist mit einem Wort gesagt: Tradition!"
Woran denkt Regensburg bei Traditionen
Hört man sich in der Regensburger Innenstadt um, sind die Meinungen zu Traditionen nicht einhellig: Auffällig ist aber, dass viele der Traditionen von Religion geprägt sind. Und auch bei der jungen Generation, die sich in der Studierendenstadt Regensburg rumtreibt, haben Traditionen noch einen Einfluss auf den Jahresablauf. „Ostern ist für mich etwas sehr Traditionelles! Da muss ich gleich an meine Oma denken, an Ostereier und Kirchweihnudeln“, ist eine der ersten Antworten, die man auf die Frage nach den persönlichen Traditionen erhält. Dazu gehören dann eben auch die Bräuche, die am jeweiligen Feiertag gepflegt werden – die sind dann auch abhängig davon, in welchem Kulturkreis man sich bewegt. „Ich denk, Heimat ist jetzt nicht unbedingt ein Land oder eine Stadt, sondern eher das kulturelle Umfeld. Und ich komme halt aus einer ländlichen Gegend, wo dann der Maibaum aufgestellt wird und solche Sachen – daran muss ich bei Tradition als Erstes denken“, so ein Befragter in der Regensburger Altstadt.
Religion und Tradition
Gänzlich verloren gegangen sind Traditionen in der Oberpfalz also sicherlich nicht. Denn sie haben immerhin auch einen gemeinschaftsstiftenden Nutzen, wie auch eine weitere junge Frau bekräftigt: „Dass man sich in der Familie trifft und gemeinsam in die Kirche geht – das macht man im Dorf bei uns einfach so. Mir ist das auch sehr wichtig, auch weil ich sehr weit weg von meiner Familie wohne. So kann man gemeinsam einfach mal Zeit miteinander verbringen.“ Dass gerade Religion bei Brauchtum und Tradition eine große Rolle spielt, sollte selbstredend sein – nicht nur das Christentum hat hier seine Finger im Spiel: „Ich verbinde den Ramadan mit meiner Heimat, das ist sehr wichtig – damit kann man sich auch reinfühlen, wie Menschen ohne Zugang zu Essen sich fühlen“, erklärt eine weitere junge Befragte ihre Auffassung von Tradition.
Bier, Brezen und … Besäufnis?
Aber nicht alle denken bei Tradition direkt an besinnliche Zeiten mit der Familie, – sondern auch an Volksfeste, Feiern und alles, was dazu gehört. „Ich verbind‘ schon auch das Biertrinken mit Deutschland, ist ja auch typisch bayerisch… Das mit dem Saufen ist aber eben so eine Sache. Da kommt’s bei den Traditionen immer drauf an – das kann man nicht pauschal sagen“, sinniert ein Befragter über sein Verhältnis zum Trinken als vermeintlichem Teil bayerischer Tradition. Es ist auffällig, dass geselliges Feiern in Bayern, der Oberpfalz und auch Regensburg oftmals feuchtfröhlich stattfindet: sei es nun eine Kirchweih, die Regensburger Dult oder das Weizen beim Frühschoppen, wie ein weiterer, älterer Mann auf die Frage nach Traditionen erwähnt. „Weißwurst, 'ne Breze, den süßen Senf vom Händlmeier und 'n Weizn“, das gehört für ihn auf jeden Fall mit dazu. Demnach sind auch „Traditionsunternehmen“ aus Regensburg in der Region stark verankert.
Blick nach vorne oder doch eher zurück?
Aber auch wenn Traditionen im Jahresrhythmus der Regensburger und Regensburgerinnen stark verankert sind – im Alltag stehen sie vielleicht doch nicht immer an erster Stelle. Einige Menschen fühlen sich durch ihre Traditionen und Bräuche gestärkt, nicht nur an Festtagen, sondern auch im Alltag. Das gilt sowohl für ältere als auch für jüngere Menschen: „Mir persönlich sind Traditionen auch sehr wichtig. Auf einer Skala von eins bis zehn? Auf jeden Fall eine Elf“, erklärt die junge Frau, für die Ramadan eine Verbindung zur Heimat darstellt. Und während Traditionen den einen Regensburgern und Regensburgerinnen eine Stütze im Alltag bieten, als etwas, das einem Halt gibt, sehen andere Traditionen eher skeptisch: „Das sind ja doch Regeln und gesellschaftliche Zwänge – wenn eine Gesellschaft sich weiterentwickeln möchte und beispielsweise irgendwann auf den Mond fliegen möchte, kann Konservatismus und Traditionsbewusstsein oder die Rückwärtsgewandtheit eher hinderlich sein“, erläutert ein junger Erwachsener sein zwiegespaltenes Verhältnis zum Traditionsbegriff. Denn auch wenn Traditionen vielleicht etwas altmodisch erscheinen mögen, würden sie für den Zusammenhalt einer Familie eine große Rolle spielen, fügt er hinzu.
Das bayerische Klischee
Deutschlandweit ist Bayern für sein Traditionsbewusstsein und sein Brauchtum wohl berühmt-berüchtigt. Nicht umsonst: Bayerische Kultur ist ein deutscher (oder eben doch bayerischer?) Exportschlager. Bayerische Volksfeste werden auf dem gesamten Globus gefeiert, selbst in Indien oder Singapur fanden schon Oktoberfeste statt. Und damit verbreitete sich auch das Klischee der „typischen Bayern“: In Lederhose oder Dirndl, mit Maßkrug in der Hand und immer an einer Breze oder Weißwurst naschend. Aber was steckt in Wirklichkeit hinter der bayrischen Festtradition? Hinter jedem der Feste steht seine eigene Geschichte, die sich im bayerischen Brauchtum und der Tradition der jeweiligen Region fest verankert hat.
Dult is' Kult!
Das bekannteste Fest Regensburgs ist und bleibt wohl die Regensburger Dult. Im Mai strömen die Menschen in Massen in die Festzelte der Stadt – nur um den Spaß im Herbst noch einmal von vorne beginnen zu lassen. Der traditionelle Dultbesuch kann von Person zu Person unterschiedlich aussehen: Ob Steckerlfisch, eine Breze mit Emmentaler oder die ein oder andere Maß im Festzelt. Zünftiges Essen und Trinken gehört auf jeden Fall mit dazu. Und sobald der Himmel sich verdunkelt, die bunten Lichter das Glänzen beginnen und die Musik lauter wird, stehen die ersten auch auf den Bierbänken und schunkeln zu ihren Lieblingsliedern mit.
Der Ursprung der Dult
Dabei war der Ursprung der Dult ein recht unspektakulärer: Das Wort kam zunächst im 8. Jahrhundert vor und bezeichnete einen Jahrmarkt, oftmals in Verbindung mit einer Kirchweih. In Regensburg hatten die Dulten ursprünglich den Zweck eines Warenmarkts und waren weniger durch ihren festlichen Charakter geprägt. Zu Beginn richtete sich der Termin der Dulten auch – wie sollte es anders sein – nach der Kirche: Sie fanden zeitgleich zu den Grabwallfahrten Sankt Emmerams und Sankt Erhards statt. Erst ab dem 18. Jahrhundert sollten die zwei Regensburger Dulten zu den beiden Terminen im Frühling und im Herbst stattfinden – ein Rhythmus, der bis heute beibehalten wird. Nachdem im 19. Jahrhundert aus Kostengründen beschlossen wurde, auf die Warendulten zu verzichten, verlagerte sich das festliche Treiben: Der Fokus legte sich dann auf die Jahrmärkte, die damals bereits seit mehreren hundert Jahren in Stadtamhof stattfanden. Nachdem sich die Jahrmärkte größter Beliebtheit erfreuten, wurde so aus der reinen Warendult ein Vergnügungsevent. Und sobald Stadtamhof im 20. Jahrhundert ein Teil Regensburgs wurde, wurden aus den Stadtamhofer Dulten die Regensburger Dulten – auf denen sich nach der zweijährigen Pandemie-Pause heuer wieder tausende Menschen am festlichen Treiben erfreuen konnten.
Straubinger Gäubodenvolksfest: A Trumm vom Paradies
Aber nicht nur die Regensburger können ordentlich feiern, wie die niederbayrischen Nachbarn beweisen: Als zweitgrößtes Volksfest Bayerns – selbstverständlich gleich nach dem Münchner Oktoberfest – nimmt das Gäubodenvolksfest in Straubing jedes Jahr aufs Neue Zeit im Kalender der Kleinstadt ein. Die „fünfte Jahreszeit“, wie Einheimische ihr geliebtes Volksfest oftmals nennen, bedeutet fast zwei Wochen Ausnahmezustand, während dem über eine Millionen Menschen in die sieben Festzelte am Hagen in Straubing strömen. Das Gäubodenfest bietet mehr als kühles Bier, tanzbare Musik und bayerische Tradition – auf der angrenzenden Ostbayernschau können Schaulustige sich zwischen Saunen, technischen Raffinessen und nützlichen Gadgets tummeln und stöbern, was das Zeug hält. Und im historischen Bereich des Gäubodenfests können Besucher in vergangene Zeiten eintauchen.
Ein Fest mit langer Geschichte
Denn hinter dem Gäubodenvolksfest steckt eine lange Geschichte: Gegründet wurde das Volksfest im Jahr 1812 durch König Maximilian I. Joseph, der per Dekret veranlasste, dass ein landwirtschaftliches Fest für den Unterdonaukreis veranstaltet werden soll. Daher rührt auch die Benennung als „Gäubodenvolksfest“: Der Gäuboden ist ein landwirtschaftlich besonders fruchtbares Gebiet, das sich südlich der Donau befindet. Damals fand das Volksfest abwechselnd in Straubing, Passau und später auch Landshut statt, bis das Fest ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in Straubing sein festes Zuhause fand und alle zwei Jahre auf die Beine gestellt wurde. Während der NS-Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand das Gäubodenvolksfest weiter statt – nun als Propagandafest der Nationalsozialisten unter dem Namen „Fest der Ostmark“ mit der dazugehörigen „Braunen Messe“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ Straubing sich seine Tradition aber nicht nehmen und veranstaltete das Gäubodenvolksfest, welches sich seitdem in das Schlaraffenland weiterentwickelte, wie man es heute kennt. Zum 200-jährigen Jubiläum im Jahre 2012 wurde der historische Bereich eröffnet, der die lange Geschichte des Volksfests wieder in die Gegenwart holt.
Mehr als nur Legenden: Agnes Bernauer und der Further Drachenstich
Aber nicht nur Traditionsfeste finden in unseren Breitengraden statt, auch Legenden und Geschichten, die sich über die Jahrhunderte gehalten haben, werden noch immer weitergegeben. Hier hat Straubing ebenfalls etwas zu bieten: Die Agnes-Bernauer-Festspiele erzählen alle vier Jahre die tragische Geschichte der Baderstochter aus dem 15. Jahrhundert, die ihr trauriges Ende in der Donau bei Straubing findet. Der Herzogssohn und Thronfolger des Herzogtums Bayern-München-Straubing Albrecht III. verliebte sich in die Baderstochter Agnes Bernauer, die er aufgrund ihres gesellschaftlichen Standes niemals heiraten hätte dürfen. Das konnte die junge Liebe aber nicht aufhalten – zumindest so lange, bis der Vater Albrechts, der Wittelsbacher Herzog Ernst, dafür sorgte, dass die Bernauerin als Hexe und Landesschädigerin in der Donau versenkt wurde.
Seit 1935 führt der Agnes Bernauer Festspielverein e.V. die Festspiele regelmäßig auf und lässt die tragische Erzählung auf der Bühne zum Leben erwachen. Dabei wird aber nicht immer dasselbe Stück aufgeführt: Immer wieder wird die Geschichte Agnes Bernauers neu aufgearbeitet, sodass die lokale Legende nicht ausstirbt, sondern als Tradition Straubings gehegt und gepflegt werden kann. Das nächste Mal sollen die Festspiele 2024 wieder aufgeführt werden.
Der Kirche zum Trotz: Der Drachenstich
Ähnlich sieht es auch in Furth im Wald aus: Hier wird seit Jahrhunderten das älteste Volksschauspiel Deutschlands aufgeführt. Beim Further Drachenstich wird erzählt, wie mitten im Krieg gegen Böhmen die Gefahr eines Drachens aufkam. Der einstige Beschützer der Menschen hatte sich nun gegen sie gewandt. Seit über 500 Jahren wird in Furth in Wald der „Lindwurm“ gestochen, was den Further Drachenstich zum ältesten Volksschauspiel des Landes macht. Ursprünglich war der Drachenstich Teil der Fronleichnamsprozession und eine bedeutende Tradition der Katholischen Kirche. Als die Bevölkerung immer mehr Gefallen an der Unterhaltung durch das Stück fand, wurde der Drachenstich 1878 sogar durch den Regensburger Bischof verboten – was die Further jedoch gekonnt ignorierten. Bis heute wird der Drachenstich jährlich aufgeführt und 2018 in das „Immaterielle Kulturerbe Deutschlands“ der deutschen UNESCO-Kommission aufgenommen. Den Kopf des „alten“ mechanischen Drachens – nachdem Tradinno 2010 ein neues Modell bekam – kann man im Regensburger Haus der Bayerischen Geschichte genauestens betrachten. Ein Stück der Further Legende direkt vor der eigenen Nase!
Kultur, Spaß und Geschichte – Traditionen in Bayern
Würde man jede einzelne Tradition und jeden einzelnen Brauch, der in Bayern gepflegt wird, aufzählen wollen, würde die Liste wahrscheinlich kein Ende finden. Aber wirft man einen Blick auf die bekannten und weniger bekannten Traditionen, die sich finden lassen, erkennt man schnell, dass in ihnen ein eigener Zauber liegt. Durch sie werden Kultur und Geschichte übermittelt und wer sich um sie kümmert, trägt zu ihrer Erhaltung bei. Auch in ihrem Facettenreichtum scheinen die Traditionen in und um Regensburg schier unermesslich: ob es geselliges Feiern sein soll, religiöses Brauchtum oder Lokalgeschichte.
"Neue" Traditionen
Die Rückwärtsgewandtheit, die dem Brauchtum und der Traditionspflege nachgesagt wird, ist ein zweischneidiges Schwert: Denn ein Wissen um die Vergangenheit der Kultur und des Landes kann dazu beitragen, dass Traditionen auch modernisiert und angepasst werden. Es ist ein sich immer wiederholender Prozess, der ebenfalls dafür sorgt, dass neue kulturelle Einflüsse und Eindrücke eingewoben werden können. So können Traditionen sich auch wandeln und gegenwärtigen Ansprüchen gerecht werden – aber nur, wenn man weiß, welche Traditionen es überhaupt gibt. Dass auch das Brauchtum sich weiterentwickeln kann, zeigen Neuerungen, wie das Bewusstsein um Sexismus und Gewaltverherrlichung in traditionellen Liedern – man muss sich nur an die Diskussion rund um das „Donaulied“ erinnern. Denn auch Traditionen können reflektiert werden, solange man sich mit ihnen befasst. Und macht man das nicht? Dann geschieht es, wie auch in Anatevka besungen wird:
"Nun werdet ihr fragen, wie es mit diesen Traditionen angefangen hat. Ich werde es euch sagen:
Ich weiß es nicht. Das ist eben Tradition."
Ich weiß es nicht. Das ist eben Tradition."
Nicole Michalak, filterMAGAZIN/RNRed