Regensburger Nachrichten stellt in den kommenden Monaten die vielfältigen Partnerstädte Regensburgs vor und zeigt, warum sich ein Besuch lohnt und welchen Hintergrund die Partnerschaften haben. Die Reise wird uns über die halbe Weltkugel führen – von Arizona nach Qingdao. Wir starten jedoch an der ukrainischen Küste in Odessa.
An jedem Ortseingang Regensburgs steht ein Schild, das auf zahlreiche Städtepartnerschaften hinweist. Meist fährt man mit dem Auto zu schnell vorbei, um sie alle lesen zu können und bis man zuhause angekommen ist, hat man wahrscheinlich schon wieder vergessen, dass man eigentlich nachschauen wollte, mit welchen Städten die „nördlichste Stadt Italiens“, wie Regensburg liebevoll genannt wird, eine Bindung eingegangen ist. Wir beginnen am schwarzen Meer mit einer Stadt, die seit Beginn Frühling des letzten Jahres stark an Bekanntheit hinzugewonnen hat: Odessa.
Leben zwischen Raketen und Drohnen
Vor einem Jahr wussten nur reiselustige Insider von der „Perle am Schwarzen Meer“, wie Odessa des Öfteren genannt wird. Heute ist die Stadt durch den russischen Angriffskrieg und ihre strategische Bedeutung als Umschlagplatz für Waren wie Getreide zu trauriger Berühmtheit gekommen. Momentan läuft das Leben der gebliebenen Odessiten beinahe wie vor dem Beginn des russischen Angriffs. Einzig einige Barrikaden, Sandsäcke um Sehenswürdigkeiten und die von der ukrainischen Regierung aufgestellten, zerstörten russischen Panzer erinnern an den Kriegszustand, in dem sich die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 nach 2014 erneut befindet. Touristen und damit auch Freunde aus der Stadt Regensburg bleiben der Stadt (gezwungenermaßen) weiter fern, doch die „Perle am schwarzen Meer“ wäre es wert, besucht zu werden. Ein Ausblick darauf, was uns erwartet, wenn in der Ukraine endlich wieder Frieden herrscht.
Von Katharina der Großen zur Kulturhauptstadt Osteuropas
Odessa ist eine Hafenstadt und Hafenstädte haben gegenüber anderen Städten einen entscheidenden Vorteil: Nirgends findet so viel kultureller Austausch statt wie hier. Durch die Zarin Katharina die Große, die einen großen Hafen für ihr Reich bauen wollte, gewann das Gebiet des heutigen Odessa Ende des 18. Jahrhunderts rasant an Bedeutung. Vom Zarenreich über die russische Revolution, den leninistischen Völkermord „Holodomor“ bis zum Zerfall der Sowjet-Union mussten die Ukrainer lange warten, bis sie sich endlich unabhängig nennen durften. Ihren Status als Stadt der vielen Kulturen hat Odessa auch über die Jahrhunderte nicht verloren. Ganz im Gegenteil! Heute geht man davon aus, dass mehr als 130 Nationalitäten dauerhaft im Stadtgebiet leben. Der bekannte und beliebte sowjetische Dichter Alexander Puschkin beschrieb Odessa bereits Anfang des 19. Jahrhunderts mit den Worten: „Hier atmet man ganz Europa!“ Seit 1980 gilt Odessa offiziell als Millionenstadt und ist damit ein ganzes Stück größer als ihre ostbayerische Partnerin Regensburg. Weiter gilt Odessa dadurch hinter Kyiv und Charkiw als drittgrößte Stadt des Landes.
Architektonische Gegensätze erzeugen Spannung
Odessa vereint wie kaum eine andere Stadt in Osteuropa Kulturen und hat ihr ganz eigenes Flair. Grund dafür war und ist bis heute der große Anteil jüdischer Bevölkerung in der Hafenstadt. Der bereits erwähnte Schriftsteller Puschkin verliebte sich hier in die Gräfin Woronzowa, deren Gatte Michail mit Investitionen in seiner Amtszeit die Grundsteine legte, die Odessa später zur Weltstadt machen sollten. Puschkin zog aus seiner Zeit in Odessa und seiner unglücklichen Liebe Inspiration für einige seiner bekanntesten Werke und die Stadt dankte es ihm mit mehreren Denkmälern und einem Museum. Puschkins Rivale in der Liebe Fürst Woronzow sorgte derweil für Infrastruktur und Ausbau von Wirtschaft und Wissenschaft. So entstand auf Geheiß des Fürsten ein Palast, der heute noch über der Stadt thront. Für den Bau des Palasts engagierte Woronzow den Architekten Francesco Boffo, der auch mit einem seiner späteren Werke das Stadtbild Odessas für immer prägen sollte. Generell atmet beinahe jede Ecke der kosmopolitischen Metropole Geschichte, die schon Jahrhunderte vor Katharina der Großen mit den Siedlungen slawischer Stämme begann.
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Ein Stück (Kino-)Geschichte
Aber auch die Oberfläche der Stadt lockt Touristen an und glänzt mit architektonischen Highlights. Das inoffizielle Wahrzeichen der Stadt ist dabei die Potemkinsche Treppe. Ihren Namen bekam diese dank ihrer Rolle in einer Schlüsselszene des sowjetischen Propagandafilms „Panzerkreuzer Potemkin“ aus dem Jahr 1925, in dem die Russische Revolution und die blutige Niederschlagung der Aufständischen von 1905 thematisiert wurden. Entworfen wurde die Brücke von einem alten Bekannten: Fürst Woronzow war von der Arbeit seines Architekten Boffo so begeistert, dass dieser auch die Treppe planen durfte, die Hafen und Stadt miteinander verbinden sollte. Heute ist diese auch wegen ihrer beeindruckenden Architektur immer noch ein beliebtes Foto-Motiv. In der Oblast von Odessa – also dem „Landkreis“ – befindet sich auch die Stadt Bilhorod-Dnistrowskyj und in ihrer direkten Nähe die Festung Akkerman. Die historische Festung steht auf den Überresten einer antiken griechischen Stadt und wurde über die Jahrhunderte von einer Vielzahl von Herrschern genutzt. Heute lockt die historische Stätte auch viele Odessiten an, die Zuflucht vom Trubel der eigenen Großstadt suchen.
Die Katakomben von Odessa
Unter fast der gesamten Stadt verzweigt befinden sich Gänge und Höhlen. In dem beinahe 2.500 Kilometer langen Tunnelsystem, das unter anderem auf der Suche nach billigem Baumaterial für die ständig wachsende Stadt entstandt, versteckten sich im zweiten Weltkrieg Partisanen vor den deutschen Besatzern. Heute sind die Katakomben ein Touristen-Magnet, doch die verzweigten und bis heute nicht komplett erkundeten Gänge gelten als gefährlich. Ähnlich wie in ihrem Pariser Gegenstück gibt es auch über Odessa einige Berichte von Einheimischen und Touristen, die von ihren Erkundungstouren Untertage nicht zurückgekehrt sind. Einer der bekanntesten Fälle dreht sich dabei um die junge Studentin Masha, die nach einer Silvester-Feier im Jahre 2005 nicht aus den Gängen zurückgekehrt sein soll. Ein Mann behauptete Jahre später, die Leiche der Frau gefunden zu haben, doch sowohl offizielle Stellen als auch ein Investigativ-Journalist des Magazins „Vice“ konnten keine Beweise finden, dass Masha überhaupt je existierte. Gruselgeschichten wie das Verschwinden von Masha tragen natürlich trotzdem zur Popularität der Katakomben bei. Im starken Kontrast zu der dunklen Vergangenheit der unterirdischen Tunnel steht der größte Feiertag der Stadt. Odessa ist in der ganzen Ukraine für seinen guten Humor bekannt. „Yumorina“ wird – wie sollte es anders sein – am ersten April gefeiert und bietet seit den Siebzigern jedes Jahr ein breites Programm mit Paraden, Clowns und Comedians.
Die Potemkinsche Treppe ist bei jedem Wetter beliebt, da sie Innenstadt mit dem Hafen verbindet.
Das schwarze Meer wird zum Schwanensee
Odessa ist auch architektonisch eine Stadt der Kontraste. Kleine, dichtbesiedelte Gassen mit verschachtelten Hinterhöfen treffen auf Prunkbauten wie das Opernhaus der Stadt. Das Opernhaus wurde 1883 von einem österreichischen Architekturbüro entworfen und 1887 fertig gestellt. Das neubarocke Äußere mit seinen zahlreichen Verzierungen und Statuen trifft auf das nicht minder pompöse Innere, das im Stil des Rokokos entwickelt wurde. Selbst Komponist des weltberühmten Schwanensees Peter Tschaikowsky war im Opernhaus zu Odessa tätig. Auch über 100 Jahre später werden hier bedeutende Opern und Ballettstücke aufgeführt. Aufgrund der Lage und der atemberaubenden Szenerie lohnt sich jedoch auch ohne Ticket die Bühne zu besuchen. Im Herzen der Stadt befindet sich der Primorski Boulevard. Am Ende der beliebten und belebten Prunkstraße überblickt ein weiterer ehemaliger Förderer der Stadt sein Erbe: Armand du Plessis war Anfang des 19. Jahrhunderts Statthalter Odessas. Nach knapp elf Jahren unter dem Franzosen war Odessa der Stellung als Weltstadt einen bedeutenden Schritt nähergekommen. Einem römischen Kaiser nachempfunden, blickt die Statue von Armand direkt auf die Potemkinsche Treppe.
In Odessa trifft atemberaubende Architektur auf den industriellen Hafen. Im Bild das Opernhaus der Stadt.
Ukrainischer Knotenpunkt
Aus der Rolle als Hafenstadt heraus entwickelte sich Odessa zum Knotenpunkt der gesamten Ukraine. Eine Vielzahl von Bahnlinien läuft hier am schwarzen Meer zusammen und transportiert Menschen, Güter und das Lebensgefühl des schwarzen Meeres in die gesamte Ukraine. Zur Erkundung der Stadt bietet sich die Tram an, deren Anfänge schon über einhundert Jahre zurückliegen. Die rot-weiß-gelben Wagen haben seit den Sechzigerjahren nichts von ihrem Charme eingebüßt und bringen Einheimische wie Touristen zuverlässig von A nach B. Der Industriehafen ist auch für Touristen ein beeindruckender Anblick. Nicht selten verirren sich auch junge Ukrainer hierher, um mit Freunden anzustoßen und bei sommerlichen Temperaturen den Sonnenuntergang zu genießen. Denn das Klima in Odessa ist durchaus mit dem in Regensburg zu vergleichen: Im Sommer wird auch hier die 30-Grad-Marke geknackt. Einen großen Vorteil hat Odessa gegenüber Regensburg jedoch: Am Meer gibt es wunderschöne Sandstrände. Da können die Badeseen der Oberpfalz leider nicht ganz mithalten.
Die charmanten Stadtbahnen in Odessa atmen historischen Flair © Pixabay - Yevhen1971
Von der Donau ans schwarze Meer
Der Ursprung der Städtepartnerschaft wie wir sie heute kennen, ist wohl bei der Universität Regensburg zu verorten. Die Forscher aus der Oberpfalz schlossen bereits 1988 einen Partnerschaftsvertrag mit der Metschnikow-Universität in Odessa. Zwei Jahre später folgte die offizielle Bindung der beiden Städte. Über die Jahre entwickelte sich nicht nur ein kultureller Austausch, der durch Delegationen und Reisen zum jeweiligen Partner bestärkt wurde, sondern auch die Gewissheit, dem Partner auch in Krisenzeiten beistehen zu wollen. Fast 2.600 Kilometer trennen die beiden Städte, doch über die Jahre sind Bänder entstanden, die durch den Angriff Russlands nur bestärkt wurden. Während die Stadt Regensburg selbst in den vergangenen Monaten Hilfskonvois organisierte und Platz für Flüchtlinge aus der gesamten Ukraine schaffte, tat sich vor allem die Hilfsorganisation „Space-Eye e.V.“ als Zeichen der Städtepartnerschaft hervor.
Hilfsangebote laufen auch 2023 weiter
Im Dezember 2022 sammelte die Organisation, die sich auch außerhalb der Ukraine für Geflüchtete und Kriegsgeschädigte engagiert, Weihnachtspäckchen für die Ukraine. In die Partnerstadt Odessa wurde derweil eine Busbrücke eingerichtet, um flüchtenden Ukrainern eine sichere Route nach Regensburg zu bieten. Die Unterstützung der Ukraine wird für die Dauer des Krieges weitergeführt werden. Alle Informationen zu aktuellen Hilfsprogrammen gibt es auf der Website der Stadt und der Organisation Space-Eye e.V.
Ein Anker im Herzen Regensburgs
All das Engagement der Regensburger – seien es Spenden, Wohnraum oder auch nur das Gedenken an die Opfer des Krieges – zeigt, dass eine Städtepartnerschaft mehr sein kann – mehr sein muss – als nur eine Erwähnung auf einem Schild oder einer Website. Direkt an der Donau, unweit des Hauses der Bayerischen Geschichte, befindet sich das Ankerherz: Ein Geschenk der Stadt Odessa an die Stadt Regensburg. Die Skulptur war als Zeichen des 30-jährigen Bestehens der Partnerschaft gedacht, dient nun seit Kriegsbeginn allen Regensburgern als Mahnung, die Ukraine bei allen schlimmen Dingen, die auf der ganzen Welt geschehen, nicht zu vergessen. In nicht allzu ferner Zukunft wird sich die Bedeutung hoffentlich wieder umkehren und Odessa wieder in altem Glanz erstrahlen, denn obwohl Strandpromenaden, Opernhaus, Stadtgarten und Zoo momentan oft vor dem Hintergrund möglicher russischer Angriffe verwaist sind, ist allen Bewohnern Odessas klar, dass ihre Stadt auch diese Krise überstehen wird. Regensburg wird dabei helfen und mit ihnen feiern, wenn es soweit ist.
Нет войне – kein Krieg!
Rührendes Bild einer Regensburger Solidaritätsaktion am Bismarckplatz © Stadt Regensburg
Lucas Treffer / RNRed