Am 1. Mai 1906 ereignete sich in Regenstauf ein Eisenbahnunglück, bei dem es zwar großen Schaden, aber gottseidank nur wenige Verletzte gab. Ein Ereignis, das in den Zeitungen bald verblasste. Doch hinter den Schlagzeilen verbirgt sich eine Geschichte, die erst Jahre später enthüllt wird – eine, die das Schicksal von Thomas Mann mit dieser Nacht verknüpft.
Wie es zu dem Eisenbahnunglück kam, konnte man am 3. Mai 1906 in vielen deutschsprachigen Zeitungen nachlesen. Es waren keine „Seite eins“-Berichte, denn derartige Unglücke gab es damals leider viele, da sich die Sicherungstechnik noch auf sehr niedrigem Niveau befand.
Stellvertretend für diverse Pressemeldungen beschrieb die „Neue Freie Presse“ in Wien den Vorfall. Diese Wiener Zeitung berichtete ausführlicher als so manche deutsche Medien darüber. Die „Neue Freie Presse“ sollte in der Folge ein besonderes Verhältnis zu dem Unglück entwickeln, aber das stellte sich erst zweieinhalb Jahre später heraus.
„Der D-Zug München - Berlin, der München um 6 Uhr 23 Minuten abends verlässt, stieß gestern um ½ 10 Uhr abends auf dem Bahnhofe Regenstauf (...) infolge Nichtfunktionierens einer Weiche mit einem dort auf einem Nebengleise stehenden Güterzuge zusammen (...). Nur der großen Aufmerksamkeit des Zugführers Kraus war die Abwendung einer unabsehbaren Katastrophe zu verdanken.“
Das Unglück verschlafen
Es gab einige Verletzte, die Passagiere konnten noch in der Nacht ihre Reise mit einem Ersatzzug fortsetzen. Angesichts der damals recht zahlreichen Vorfälle im Bahnverkehr also nichts besonders Aufregendes.
Kurios war vielleicht die von den „Augsburger Nachrichten“, dem „General Anzeiger für Dortmund“ und anderen am 4. Mai vermerkte Tatsache, dass bei den Aufräumarbeiten am nächsten Morgen ein Reisender in einem Schlafwagenabteil fest schlafend gefunden worden sei. Nachdem ihm berichtet wurde, was vorgefallen war, soll er laut Zeitungsmeldungen „große Augen“ gemacht haben.
Erst später stellte sich heraus, dass sich unter den Fahrgästen auch Thomas Mann befand, der zu einem Vortrag nach Dresden unterwegs war.
Das Eisenbahnunglück von Regenstauf geriet bald in Vergessenheit.
Am 6. Jänner 1909 war der Unfall aber plötzlich wieder Thema, ein sehr großes sogar. Die erwähnte „Neue Freie Presse“ brachte an diesem Tag in Wien nämlich eine kleine Novelle im Erstdruck heraus, in der von niemand geringerem als Thomas Mann der Unfall von 1906 aus persönlicher Sicht beschrieben wurde.
Thomas Mann © Archiv S. Fischer Verlag, mit frdl. Genehmigung
Ungemach beim Reisen
Thomas Mann war in seinem Leben ein Vielreisender, der dennoch zugab, dass er nie „in Verkehrsdingen die rechte Abgebrühtheit gewinnen“ würde. Aber er war anspruchsvoll: In seinen Tagebüchern finden sich mehrere Einträge zu Reiseangelegenheiten.
1933 erlebte er eine wahrlich schlimme Bahnfahrt von Mulhouse nach Marseille: „Es ist kein Waggon-Restaurant im Zuge. Auch sonst keine Gelegenheit, ein warmes Getränk, mir so wichtig, zu bekommen. Eine schlimme Behagensminderung.“
Während einer Schifffahrt mit der „Queen Elisabeth“ nach New York notierte er am 15. Mai 1947: „Übertriebenes Rollen des Schiffes 2 Tage lang. Enervierende Störung. Namentlich gestern Abend beim Packen. Wegrutschen und Verschwinden von Sachen.“
Im gleichen Jahr hatte er in den USA ein sehr unangenehmes Erlebnis in einem „air conditioned Luxus Zug“ von New York nach Chicago. Diesmal gab es zwar ein Zugsrestaurant, aber das „Abendessen mit vis-á-vis“ war ihm „schwer erträglich.“
Am 1. Mai 1906 ereignete sich im Bahnhof Regenstauf ein Eisenbahnunglück. In einem der Züge saß der Dichter und Nobelpreisträger Thomas Mann auf der Fahrt nach Hof. (Anm.: eigentlich war Dresden sein Ziel) © Wolfgang Ludwig
Die Bahnfahrt nach Dresden
Am 1. Mai 1906 befand sich Thomas Mann also auf der Reise von München nach Dresden zu Vorträgen und um sich „der jauchzenden Menge“ zu zeigen. Er reiste natürlich erster Klasse und nahm die Abläufe vor der Abfahrt zum Anlass, Personen eingehend zu beschreiben, wie den Herrn mit „Gamaschen und gelbem Herbstpaletot“, „die alte Frau in der fadenscheinigen schwarzen Mantille“, die beinahe in die zweite Klasse eingestiegen wäre und vom Schaffner, dem Repräsentanten des Wilhelminischen Staates, der Autoritätsperson schlechthin, unwirsch zurechtgewiesen wurde. Sein Großgepäck hatte er aufgegeben, es wurde im Gepäckwagen an der Spitze des Zuges transportiert.
Die Fahrt verlief zunächst normal, doch kurz nach Regensburg passierte es: „Ich nahm meine Handtasche aus dem Netz, um etwas Toilette zu machen. Mit ausgestreckten Armen hielt ich sie über meinem Kopfe. In diesem Augenblick geschieht das Eisenbahnunglück.“ Thomas Mann entglitt die Toilettentasche, er wurde gegen die Abteilwand gedrückt – sonst hatte er Glück.
Was ist mit den Manuskripten?
Als nach dem ersten Schrecken die Reisenden aus den Waggons kletterten und die Lage überblickten, galt Thomas Manns Sorge nicht eventuellen Opfern, sondern seinem Gepäck im vordersten Wagen, in dem seine wertvollen Manuskripte lagen: „Ganz für mich allein stand ich in der Nacht zwischen den Schienensträngen und prüfte mein Herz. (…) Es sollten Räumungsarbeiten mit meinem Manuskript vorgenommen werden. Zerstört also, zerfetzt, zerquetscht wahrscheinlich.“
Auch mit seinen Manuskripten sollte er Glück haben, sie wurden kaum beschädigt.
Mit einigen Stunden Verzögerung konnten er und die anderen Passagiere, sofern sie nicht verletzt waren, die Reise mit einem anderen Zug fortsetzen. Über den Fortgang der Fahrt im Ersatzzug merkt er an: „Ich hatte einen Fahrschein erster Klasse (…), aber das half mir gar nichts, denn jedermann gab der ersten Klasse den Vorzug, und diese Abteile waren noch voller als die anderen.“
So wird in der Novelle von dem Vorfall berichtet.
Grund für den Auffahrunfall war die Fehlfunktion einer Weiche, der zunächst beschuldigte Fahrdienstleiter war unschuldig.
Am Schluss der Novelle hofft der Vielreisende, „gute Chancen zu haben, dass mir sobald nicht wieder dergleichen begegnet.“
Er sollte Recht behalten.
Die an der Unterführung Jahnstraße versteckt angebrachte, schwer lesbare Gedenktafel. © Wolfgang Ludwig
Versteckte Erinnerungstafel in Regenstauf
Im Bereich des heute eher verschlafenen Bahnhofs in Regenstauf wurde auf Initiative der ehemaligen Gemeinderätin und Deutschlehrerin Christina Mayer (SP) nach dem Umbau der Bahnhofsanlage eine Erinnerungstafel an dieses denkwürdige Unglück angebracht. Allerdings ist die kleine, schwer lesbare Tafel an einer von Graffiti verunzierten Wand der Bahnunterführung Jahnstraße an einer für Thomas Mann unwürdigen Stelle und für die meisten Reisenden nicht sichtbar angebracht! Wäre das ehemalige Bahngebäude ein repräsentativerer Ort dafür, auch wenn es nicht mehr der DB gehört? Es wäre schön, wenn man sich in Regenstauf etwas einfallen ließe!
Auf youtube kann man eine Tonaufnahme der Novelle, gesprochen 1954 von Thomas Mann persönlich, hören.
Wolfgang Ludwig