Ein Brudermord?
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Am 17. Februar 1891 wurde der Lyriker und Schriftsteller Georg Britting in Regensburg geboren. Seine Kurzgeschichte „Brudermord im Altwasser“ zählt bis heute zu den besten Kurzgeschichten im deutschsprachigen Raum. Ein Nachruf von Wolfgang Ludwig.
Am 21.November 1929 erschien in „Münchner Neueste Nachrichten“ zum ersten Mal Georg Brittings Kurzgeschichte „Brudermord im Altwasser“. Dieser Text genießt heute beinahe Kultstatus und zählt zu besten deutschsprachigen Kurzgeschichten.
Die Zeitungen waren um 1900 voll von Berichten über Badeunfälle an der Donau. Zum Beispiel schrieb der Regensburger Anzeiger am 23.7.1898: „In der Wassergasse (...) gefiel es vorgestern einem Knaben, seinen Spielgefährten, den ca. 5 Jahre alten Sohn des Taglöhners Moritz, in den Seitenarm der Donau zu stürzen“. Am 21.5.1898 ging es um Tod durch Ertrinken bei einer Kahnfahrt. In den Jahren davor und danach gab es Dutzende weitere Meldungen dieser Art. Georg Britting war damals ein kleines Kind, aber er wird es schon mitbekommen haben, was die Erwachsenen in der Zeitung lasen und danach besprachen. Konsequenzen hatten derartige Unfälle meist keine. Es waren eben Unfälle. Fragen der Aufsichtspflicht oder der Absicherung waren kein großes Thema.
In den 1920er Jahren thematisierte Britting ähnliche Unfälle, aber auch andere regionale Themen literarisch in mehreren Kurzgeschichten.
Jugend in Regensburg
Georg Britting (1891 – 1964) lebte, unterbrochen von der Kriegsteilnahme, bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr in Regensburg, später in München. Er schrieb für Regensburger Zeitungen erst Lokalmeldungen, dann Buchbesprechungen und Theaterkritiken und verfasste auch expressionistisch beeinflusste Gedichte. In München arbeitete er freischaffend, aber aus finanziellen Gründen auch für diverse Zeitungen. Kurzfristig gab er mit seinem Freund, dem Maler Josef Achmann, die expressionistische Literaturzeitschrift „Die Sichel“ heraus.
Die Zeitungsartikel seiner frühen Jahre lassen Britting bisweilen in zweifelhaftem Licht erscheinen. Gerne prahlte er gegenüber Freunden über Streiche. So soll er einmal in Regensburg einen Rettungskahn aus der Verankerung gelöst haben, worauf dieser die Donau hinabtrieb. In den Regensburger Nachrichten schrieb er dann über eine „lästerliche Tat“ frevelhafter Lausbuben. In der Donau Post verfasste er nach dem Weltkrieg oft gehässige, diffamierende und ziemlich unfaire Theaterkritiken.
Die Regensburger Welt des frühen 20. Jahrhunderts ließ Britting zeitlebens nicht los. Er verbrachte seine Jugend als Sohn eines Geometers in bescheidenen Verhältnissen in der Altstadt von Regensburg. Der Vater verlor jedoch seine staatliche Stellung, als bekannt wurde, dass er Jahre zuvor wegen einer Sachbeschädigung drei Monate im Gefängnis war. Er gab sich aber aus Scham weiterhin als Behördenangestellter aus, bis sich das Vermessungsamt veranlasst sah, die Kündigung öffentlich in Zeitungen bekannt zu geben. Nach dieser Schande ging es bergab: Der Vater wurde wieder kriminell, und die Familie musste bescheiden von Hilfsarbeiten leben. In der Realschule war Britting wenig erfolgreich. Er musste eine Klasse wiederholen und seine Schullaufbahn ohne Abschluss abbrechen. Dennoch bezeichnete Britting seine Kindheit als „glücklich“ und erzählte fast mystifizierend von der Jugend am geliebten Strom, wo er wahrscheinlich mehr Zeit verbrachte als in der Schule. Ohne irgendwelche wirtschaftlichen Bedenken plante er statt einer traditionellen Berufsausbildung eine literarische Karriere. Nach Jahren des Sich-Gehen-Lassens kam ab 1911 für den Zwanzigjährigen der erste Erfolg in Form einer Veröffentlichung eines Gedichtes und einer Anstellung als Kritiker bei einer Zeitung (Neue Donau Post). 1913 brachte das Regensburger Stadttheater sogar den (heute verschollenen) Einakter Brittings „An der Schwelle“ heraus. Die Kritiken waren freundlich, in den Neuesten Nachrichten sogar überschwänglich, aber diese Kritik ließ Britting vermutlich von einem Freund schreiben.
Regensburg war vor dem 1. Weltkrieg ein beschauliches Städtchen mit sehr traditionellen Lebensformen. Die erst 1904 errichtete neue Straßenbahn sorgte für enorme Aufregung, die Industrie verdrängte das traditionelle Handwerk und produzierte erfolgreich Schnupftabak, Bier und Zucker. Es kamen sogar Touristen. Man traf sich in Vereinen und beim Bier, Feiertage wurden pompös begangen, bei Umzügen waren die Angehörigen des Hauses Thurn und Taxis immer vorne, Angehörige der Stadtverwaltung kamen hinterher.Britting war Stammgast in Kneipen und zahlreichen Braukellern, wo er und seine Kumpane immer wieder dem Bier sehr heftig zusprachen.
Die Donau war allgegenwärtig. Man fischte, Donauschiffe konnten bis Regensburg fahren und belebten den Handel, die Donauauen waren ein beliebtes Rückzugsgebiet für Kinder und auch Jugendliche.
Die Katastrophe in den Auen
Von so einem Kinderabenteuer erzählt Britting 1929 in seiner berühmten Kurzgeschichte, wahrscheinlich beeinflusst von einer Zeitungsmeldung über einen der häufigen, schrecklichen Unfälle an der Donau.
Zunächst schildert Britting die Landschaft der Donauauen sehr eindrücklich. Simultane Beschreibungen geben ein lebhaftes Bild, wirken aber auch bedrohlich und unheilbringend. Zahlreiche Adjektive verstärken diesen Eindruck, Satzbauregeln werden in expressionistischer Manier stellenweise außer Kraft gesetzt. Die friedlichen „grünschwarzen Tümpel“ , abgesondert durch Steindämme vom „großen, grünen Strom“ stehen einem bedrohlichen Szenario in Form des Bürstlings, einem Raubtier „mit bösen Augen“ und dem Schlamm mit einem Geruch „wie Fäulnis und Kot und Tod“ entgegen. Über allem lastet brütende Hitze. In dieser Landschaft bewegen sich die drei elf- bis dreizehnjährigen Hofberger Buben.
Sie dringen immer tiefer in das Dickicht der Auen, sehen an einem Tümpel einen Kahn angekettet. Sie beschließen, das Boot loszumachen und hinauszufahren. In der Mitte des Wassers beginnen sie übermütig zu schaukeln, erst leicht, dann immer heftiger, und als der Jüngste aufsteht, geben sich die Älteren ein Zeichen und setzen sich auf die Seite des Jüngsten, der ins Wasser fällt: „Dann lag der Jüngste im Wasser und schrie, und ging unter und schlug von unten gegen das Boot, und schrie nicht mehr und pochte nicht mehr und kam auch nicht mehr unter dem Boot hervor, unter dem Boot nicht mehr, nie mehr.“
Die beiden älteren Brüder unternehmen nichts. Sie sitzen „stumm und käsegelb“ im Kahn, rudern zurück, sprechen nicht, gehen über den Steindamm nach Hause. Dann sehen sie den Dom und das Dach des Vaterhauses. Sie bleiben stehen, „schweißüberronnen, zitterten verstört“, dann sagt der Ältere wie nach jedem Streich: „Zuhause sagen wir aber nichts davon!“ Sie gehen „entschlossen, ewig zu schweigen“ auf die Haustüre zu, „die sie wie ein schwarzes Loch verschluckte.“
Ein klassischer offener Schluss! Das vertraute Vaterhaus wird zum unheimlichen „schwarzen Loch“. Der Titel provoziert: War das ein Mord? Wohl nicht. Der Text sorgte für Diskussion und fand bald Eingang in viele Lesebücher.
Nach der Erstveröffentlichung 1929 in den Münchner Neueste Nachrichten“ verfasste Britting noch andere Kurzgeschichten, die in Regensburg und den Donauauen spielten. 1933 brachte er diese, zusammen mit einigen Gedichten, in einem Sammelband unter dem Titel „Die kleine Welt am Strom“ heraus. Darin schildert er seine zur Idylle verklärte Heimat an der Donau in einer gar nicht idyllischen Zeit, vor allem für diejenigen, die bei dem ideologischen Wahn nicht mitmachen – aber sich auch nicht dagegen wenden. Die Verklärung der Vergangenheit ist sein Ausdruck des inneren Rückzugs.
Die Welt am Strom
„Die kleine Welt am Strom“ um 1900 – das ist eine Idylle mit liebenswürdigen oder schrulligen Personen, mit kleinen aber auch größeren Problemen, mit intakter Natur und elementaren Gefahren rund um die Donau, die er in einem Gedicht mit einem Vergleich beschreibt: „Der große Strom kam breit hergeflossen wie ein silberner Fisch. Wälder waren seine Flossen.“ Da wird von einem seltsamen Franzosen erzählt, der nach dem Krieg 1870/71 in Regensburg hängengeblieben war, sich dort halbwegs integriert hatte und durch seine unbeholfene Aussprache des Deutschen für Belustigung sorgte.
Fast zu einer menschlichen Katastrophe führte in „Hochwasser“ ein alter Zwist zwischen Nachbarn. Jakob, in einem Rettungsboot sitzend, beschuldigte den Nachbarn Heinrich, vor langer Zeit seine Frau verführt zu haben und ließ diesen nicht ins Boot. Erst im allerletzten Augenblick, als der Kontrahent alles zugegeben hatte, durfte er ins rettende Boot. „Die kleine Welt am Strom“ verkaufte sich über 50.000 mal!
Brittings Schweigen
Die Nazizeit verbrachte Britting in Deutschland. Der Verlag Langen Müller verwies auf Brittings „Fronterlebnis“ im Ersten Weltkrieg und verpasste ihm ein nationales Image. Britting publizierte auch in der kleinen, etwas verstaubten Literaturzeitschrift „Das Innere Reich“ (auch bei Langen Müller), die sich zuerst eindeutig nazifreundlich positionierte, dann aber einen Spagat zwischen Reichsnähe und der Förderung distanzierter Autoren versuchte. Britting selber äußerte sich selten politisch. Einmal nahm er jedoch ganz im Sinn der Machthaber mit einem Gedicht zum Anschluss Österreichs Stellung. Er veröffentlichte aber auch kritische Gedanken zum Mythos von Langenmarck, einer verlustreichen Schlacht von 1914, was ihm wiederum Kritik der Machthaber einbrachte.
Bis zu seinem Tod 1964 lebte Britting, geehrt als Gründungsmitglied der Bayrischen Akademie der Schönen Künste, in München und veröffentlichte neben Lyrik noch mehrere in der Nachkriegszeit etwas konservativ anmutende Erzählungen.
Ein Nachruf von Wolfgang Ludwig
Bildquelle:
Kamerafoto / sonstige |
Ludwig