Bildungstrichter - Mehr Arbeiterkinder an deutschen Hochschulen
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Es geht drunter und drüber im deutschen Bildungsdickicht. Ein Ende des Bildungsstreiks scheint nicht in Sicht, besetzte Hörsäle immer noch und immer wieder. Bildung muss sich wieder lohnen! Neben rudimentären Verhältnissen von Einrichtungen und Lehre ist vor allem der finanzielle Aspekt eines Studiums der Knackpunkt sich gegen ein solches zu entscheiden. Damit zusammen hängt natürlich die soziale Herkunft. In Deutschland nehmen laut der aktuellen Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks von 100 Kindern akademischer Herkunft 83 ein Studium auf, dagegen von 100 Kindern nichtakademischer Herkunft nur 23. Gemeint sind sogenannte Arbeiterkinder, definiert nach der beruflichen Stellung des Vaters.
Der Grund hierfür liegt nicht etwa in einem Intelligenzdefizit ? doppelt so viele Arbeiterkinder besitzen nämlich das Abitur, als zum Studium antreten ? sondern in einem Informationsdefizit, wie die Leiterin der seit Mai 2008 bestehenden Initiative arbeiterkind.de, Katja Urbatsch, erklärt. Dieses will das Onlineportal mit einem über ganz Deutschland vernetztem Mentorenprogramm beheben. Beratung an Schulen, sowie Tipps sich gegen die Eltern zu behaupten. Denn vor allem sie seien ausschlaggebender Faktor; der eigene berufliche Werdegang auch der Wunsch für den Nachwuchs, um sie vor einem Scheitern zu bewahren. Hier greift wieder das Informationsdefizit: die fremde Hochschulwelt, die den Eltern nicht geheuer ist und in denen sich Arbeiterkinder nur schlecht zu recht finden. Die Initiative will daher helfen, sich für ein Studium zu entscheiden, Argumente zu finden, wenn die Eltern dagegen sind und erläutert die Finanzierung durch Bafög und Stipendien.
Wie bist du zu arbeiterkind.de gekommen?
Es war im September 2008. Über das Internet bin ich auf die Initiative aufmerksam geworden. Da ich als Erster aus meiner Familie an einer Universität studiere, hatte ich in meinem Familien- und Bekanntenkreis bereits vereinzelt die Rolle eines Mentors eingenommen. Hatte mich also mit vielen Fragen auf dieser Ebene bereits auseinandergesetzt. Als ich mich dann als Mentor und Unterstützer bei der Gründerin Katja Urbatsch meldete, um Fragende zu unterstützen, musste ich feststellen, dass ich offiziell bisher der einzige in Regensburg war, der auf die Initiative aufmerksam geworden war.
Wie sieht es jetzt in Regensburg aus?
Unsere Gruppe von Mentoren ist kontinuierlich gewachsen und wir sind inzwischen fünf Personen, welche die Initiative aktiv bewerben und Menschen mit Fragen per E-Mail und Telefon unterstützen. Hierfür fehlt den Mentoren in Regensburg leider oft die Zeit, da die meisten von uns bereits in anderen Initiativen, mit ihrem Studium oder/und Berufstätigkeit stark eingebunden sind. Über weitere Mentoren und tatkräftige Unterstützung freuen wir uns natürlich jederzeit.
Wie sieht die Beratung aus und wie kannst du vor Ort helfen?
Die meisten Anfragen kamen bisher per E-Mail. Ich habe mich aber mit zwei Personen auch persönlich getroffen und telefoniert, die sich bereits vorher für ein Studium interessiert haben. Ich versuche, sie mit Informationen und Erfahrungen zu unterstützen, um ihnen den Weg zu Universität einfacher zu machen. Interessanterweise waren beide Schülerinnen, von denen sich eine für die MINT-Fächer interessierte. Subjektiv würde ich auch sagen, dass die weiblichen Anfragen überwiegen.
Wie ist die Situation für Arbeiterkinder in Regensburg?
Daten über die Anzahl von Arbeiterkindern in Regensburg kenne ich leider nicht. Prinzipiell ist Regensburg meiner Meinung nach nicht mehr oder weniger offen für Studierende mit nicht-akademischem Hintergrund als andere Universitätsstädte. Dies ist jedoch nicht unbedingt positiv zu sehen. So begünstigen Studienbeiträge nachweislich eine soziale Selektion der Studierendenschaft. Aber auch die reduzierten Höchststudienzeiten und verkürzten Regelstudienzeiten erschweren ein Studium, gerade auch für Studierende, die von ihren Eltern nicht finanziell unterstützt werden können.
Wie können sich Arbeiterkinder an dich wenden?
Am besten per e-mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Arbeiterkind.de ist ein Erfolgskonzept: "Deutscher Engagementpreis 2009", Engagementpreise der Hans-Böckler-Stiftung und des Vereins der ehemaligen Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung, "Ausgewählter Ort 2009" im Rahmen des Wettbewerbs "Deutschland ? Land der Ideen", eines der besten 25 Projekte im Wettbewerb "startsocial2008". Katja Urbatsch wurde als "Ashoka Fellow 2009" in ein weltweites Netzwerk von Social Entrepreneurs aufgenommen. Viele dieser Wettbewerbe stehen unter namhafter Schirmherrschaft von Bundespräsident Köhler oder Kanzlerin Merkel. Eine berechtigte Frage, die sich dabei auftut ist, warum wird beim Erkennen einer Notwendigkeit eines solchen Projekts nichts an der Basis unternommen um einer sozialen Selektion entgegenzuwirken?
The Dishwasher und das FIKUS-Referat der Uni Münster
Mit dieser Frage beschäftigt sich vor allem ein weiteres Projekt: "The Dishwasher", ein Magazin, herausgegeben vom FIKUS-Referat der Uni Münster für studierende Arbeiterkinder. Magazin und Referat sind einzigartig in Deutschland. Das Referat für kulturell und finanziell benachteiligte Studierende (FIKUS) existiert bereits seit 6 Jahren und es war zu Beginn nicht einfach, wie Referent Tobias Fabinger schildert. Er ist selbst Student und schreibt für das Magazin. Im Januar ist die erste Ausgabe erschienen, im Juni kommt die Nächste, ein Halbjahresmagazin also. The Dishwasher ist aber nicht nur reine Publikation, die man nebenbei auch im Internet als PDF downloaden kann, sondern ein umfangreiches Onlineportal mit aktuellen Beiträgen, Diskussionen und Erfahrungsberichten. Die Bildungspolitik spielt natürlich eine große Rolle, daneben aber auch viel Marx und Klassenkampf. Das Magazin versucht die Problematik am Schopf zu packen, setzt sich kritisch mit der sozialen Selektion bereits im Kindesalter durch das mehrgliedrige Schulsystem auseinander. Blog und Magazin gibt's unter http://dishwasher.blogsport.de/.
Wir haben auch Tobias Fabinger zur Situation von Arbeiterkindern an Unis befragt. Fabinger ist Arbeiterkind und erzählt, dass er selbst die Studiengebühren noch nicht beisammen hat, denn das sei eine Haupthürde für Arbeiterkinder. Die Klassengrenze werde hier wieder gezogen.
Wie ist die Situation von Arbeiterkindern an deutschen Universitäten?
Eltern haben keinen Bezug zur Uni, keine Vorstellung von Uni-Begriffen wie Leistungspunkten und Scheinen. Man lebt in zwei Welten, die soziale Entfernung zu den Eltern wächst, sowie die Entfremdung zum Herkunftsmilieu. Das ist kein psychisches, sondern ein soziales Problem, aber es hat auch Vorteile: wenn ein Arbeiterkind später in eine höhere Position gelangt, weiß es, wie seine Mitarbeiter/Arbeiter fühlen. Das lässt sich gut mit Frauen vergleichen, die Zugang zu Spitzenpositionen bekommen. Sie können mehr soziale Intelligenz mit einbringen.
Wie kam es zum FIKUS-Referat und wie lange gibt es euch schon?
Das Referat ist aus einer Initiative durch Vollversammlung mit etwa 100 Studierenden hervorgegangen. Der Tenor dabei war für alle Anwesenden "ich fühle mich fremd an der Uni". Seitdem finden ein bis zweimal im Jahr Vollversammlungen statt.
Angestoßen wurde das Ganze von Andreas Kemper, der anfangs auf große Hürden gestoßen ist. Das Referat ist mittlerweile hochschulpolitisch anerkannt.
Wieso ausgerechnet Münster als Ort für das erste und in Deutschland einzigartige Referat?
Das ist ein subjektiver Eindruck. Das bürgerlich-akademische Milieu ist in Münster sehr stark und Arbeiterkinder haben es hier sehr schwer. Aber vielleicht ist es auch nur Zufall, dass wir die ersten waren.
Was ist die Message der Publikation "The Dishwasher"?
Das Ziel ist, es bundesweit bekannt zu machen und Lobbyarbeit zu betreiben, Arbeiterkindern ein Forum zu bieten.
Wie wird der Inhalt angenommen? Nützt es oder verstehen es Arbeiterkinder überhaupt, was ihr schreibt?
Natürlich, sie studieren ja. An Intellektualität mangelt es Arbeiterkindern nicht, nur an finanziellem und "sozialem Kapital".
Die Resonanz ist gut, aber ich wünsche mir mehr Biographisches.
Sind die Autoren selbst Arbeiterkinder?
Arbeiterkinder, Wissenschaftler mit nicht-akademischem Hintergrund, aber grundsätzlich stehen wir jedem offen.
Wieso gibt es keine Nachahmer für euer Projekt, vor allem für das Referat?
Es ist schwierig Strukturen aufzubauen, man muss sich institutionalisieren. Es wird schon viel diskutiert, aber der politische Druck von Arbeiterkindern muss noch stärker werden. Wir helfen auch gern beim Aufbau eines solchen Referats mit.
Glaubt ihr, dass Arbeiterkinder durch euer Referat und andere Projekte (arbeiterkind.de) langsam eine Lobby erhalten?
Ja, unbedingt. Wir bauen die Lobbyarbeit für Arbeiterkinder stärker aus und planen eine NGO für Bildungsgerechtigkeit. Die Initiative arbeiterkind.de ist toll, der Ansatz der Betreuung gut, aber: arbeiterkind.de thematisiert nicht die Strukturen und politischen Machtverhältnisse. Wir haben eine Bildungspolitik mit Status Quo, die sehr stark von den Interessen der oberen Schichten bestimmt wird; außerdem ist die Schwelle bei arbeiterkind.de mitzumachen niedriger ? der Zugang in die politische Höhe ist schwieriger, ist aber seinerseits ein toller Bildungsprozess, für die, die mitmachen. Politische Arbeit funktioniert nicht von heute auf morgen, durch die Diskussion wird das Thema öffentlich gemacht, auch sie kann etwas verändern. Politik kann auch heißen, an der eigenen Uni Verbesserungen durchzusetzen.
Wie sieht die Zukunft aus?
Das Thema 'mehr Arbeiterkinder im Bildungssystem' kann in Zukunft zum Mainstream werden, einzelne Hochschulen könnten sogar ein entsprechendes Profil ausbilden, welches beinhaltet, dass sie auf Bildungsgerechtigkeit wert legen. Es geht darum, das breite soziologische Wissen, dass es gibt, nun endlich in der Praxis anzuwenden und die soziale Herkunft der Studierenden zu berücksichtigen. Das geht nicht von selbst, viele Menschen müssen engagiert daran mitarbeiten.
FIKUS in Regensburg?
Tobias Fabinger und das Referat haben sich an Hochschulen in ganz Deutschland gewandt, um ihr Projekt publik zu machen und um Nachahmer zu werben. Wir haben uns an der Uni Regensburg umgehört, wie das Münsteraner Vorbild dort ankommt. Das Projekt an sich sei auf jeden Fall eine gute Sache, der Onlineblog auch sehr interessant, sagt Stefan Christoph, studentischer Sprecher der Universität Regensburg und selbst Arbeiterkind. Auch wäre das Projekt in Regensburg grundsätzlich realisierbar. Natürlich braucht man dafür engagierte Studenten, die sich kümmern. Die Umsetzung in Regensburg wäre jedoch eine andere: "Wenn man ein solches Projekt angreift, sollte man sich nicht auf die Klassenkampfrhetorik beschränken, weil man dadurch selbst eine Art Klasse schafft und sich abgrenzt", betont Christoph, "Was auch fehlt, sind Vorschläge zur Verbesserung."
Die Situation von Arbeiterkindern sei im Gros an allen Unis dieselbe, weil sie grundsätzlich einen schweren Zugang zur Hochschule haben. So sei die Uni als Institution an sich natürlich bürgerlich-akademisch geprägt.
Bafög ? nicht nur Quelle zur Studienfinanzierung
Im Wintersemester 2008/2009 bezogen ca. 19 % der Studierenden der Universität Regensburg und ca. 22 % der Studierenden der Hochschule für angewandte Wissenschaften Regensburg BAföG-Leistungen, ebenso wie im Sommersemester 2009. "Diese Zahl ist natürlich nicht ausschlaggebend, um etwas über den prozentualen Anteil von Arbeiterkindern an den Hochschulen in Regensburg zu sagen", erklärt die Leiterin des Amtes für Ausbildungsförderung beim Studentenwerk Niederbayern/Oberpfalz Doreen Steudte.
Die Gruppe der Bafög beziehenden Studierenden ist sehr heterogen. Ob uniinterne Sozialstudien geführt werden an der Uni Regensburg, entzieht sich der Kenntnis von Steudte. Solche Erhebungen seien jedoch wichtig: "Denn nur dann kann man schon in Schulen mit ausreichender Aufklärungsarbeit ansetzen, um die Entscheidung für ein Studium und den Weg dahin leichter zu machen. Insofern beteiligen wir uns auch an Info-Veranstaltungen, da wir dies für sehr wichtig halten. Jedoch möchten und dürfen wir unsere Aufklärungsarbeit nicht nur auf eine Gruppe beschränken, sondern müssen diese für alle Interessierten zur Verfügung stellen. Denn die Finanzierung eines Studiums kann für ein Arbeiterkind genau so schwierig sein, wie für Akademiker."
BAföG ist die drittwichtigste Säule der Studienfinanzierung neben Studienfinanzierung durch die Eltern und Studienfinanzierung durch eigene Nebenjobs. Ein Austausch zwischen Amt und Studierenden, sowie zwischen Initiativen wie arbeiterkind.de und dem Ausbildungsförderungsamt sind notwendig. Steudte bekräftigt dies und ermuntert zu mehr Feedback. An der Hochschule kann vor Ort, schnell und mit Erfahrung geholfen werden. Vor allem da der Ableger Arbeiterkind.de in Regensburg noch in den Kinderschuhen steckt. Die universitär-lokalen Begebenheiten können berücksichtigt werden und das "Problem Arbeiterkind" wird so keineswegs zum nicht greifbaren Allgemeinplatz. (Nadine Lorenz)