Oktober 2015: Strahlenalarm nahe der deutsch-österreichischen Grenze. Die Strahlenschutzmitarbeiter des tschechischen Kernkraftwerks Temelín sind verwirrt. Trotz des reibungslosen Betriebs des Reaktors schlagen die hochempfindlichen Messgeräte an der Eingangskontrolle aus. Was die Geräte messen, muss aber nicht unbedingt aus dem Inneren des Meilers stammen, sondern könnte auch aus der Umwelt in ihn hineingelangt sein. Als die Sicherheitskräfte einen Mitarbeiter einer Fremdfirma genauer inspizieren, sollte sich ihr Verdacht bestätigen. Der überprüfte Lieferant hatte am vorherigen Tag einen Wildschweinbraten aus dem Böhmerwald gegessen, kontaminiert mit radioaktivem Cäsium-137 – dem strahlenden Erbe des größten Unfalls in der Geschichte der Atomenergie. Was ist geblieben vom schwersten Atomunglück der Welt? Und in welchem Verhältnis steht es zur alttäglichen Strahlenexposition in Bayern?
26. April 1986: Aufgrund schwerwiegender Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften bei einem Reaktortest gerät Reaktor 4 des sowjetischen Kernkraftwerkes in Tschernobyl kurz nach Testbeginn außer Kontrolle. Innerhalb weniger Sekunden steigt die Leistung des Reaktorkerns um das 100-Fache an, die schlagartige Hitzeentwicklung bringt die Druckröhren zum Bersten, der Brennstoff zerreißt und mit ihm wenige Sekunden später der gesamte Reaktorkern. Durch die immense Wucht zweier kurz aufeinanderfolgender Explosionen wird das Dach des Reaktorgebäudes weggesprengt –Unmengen an radioaktivem Material gelangen in die Umwelt und Atmosphäre. Kurz darauf fangen die hochradioaktiven Moderationsstäbe aus Graphit Feuer. Ihr Rauch steigt elf Tage lang in die Atmosphäre auf und befördert zahllose radioaktive Partikel kilometerweit in die Höhe. Die UDSSR schweigt.
Kurz darauf verschwinden bereits die ersten Lebensmittel von den Speiseplänen, darunter vor allem Milch und Gemüse wie beispielsweise Spinat oder Blattsalat. Die Menschen sind alarmiert und decken sich mit Jod-Tabletten als Vorbeuge gegen den gefürchteten Schilddrüsenkrebs ein, der durch das radioaktive Jod-131 verursacht werden kann. Nicht nur die Spielplätze und Sandkästen sind wie leer gefegt, auch die Erwachsenen scheuen es lange, ihr Heim zu verlassen – über allem liegt die unsichtbare Gefahr, sich zu verstrahlen. Auch heute noch bekommt die Abteilung Radioökologie des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) Anrufe besorgter Bürger. Doch wie belastet sind drei Jahrzehnte nach dem „größten anzunehmenden Unfall“ (GAU) in Tschernobyl die Lebensmittel aus den ehemals kontaminierten Bundesgebieten?
Natürliche Strahlenbelastung
Der Mensch ist seit jeher einer natürlichen Strahlenbelastung (besser Strahlenexposition) ausgesetzt. Ursache hierfür sind sowohl Radionuklide, die im Laufe der Erdgeschichte entstanden sind, als auch die kosmische Strahlung aus den Tiefen des Weltalls und dem Kernreaktor direkt vor unserer planetarischen Haustüre – der Sonne. Die natürliche Strahlenbelastung beträgt in Deutschland etwa 2,1 Millisievert pro Jahr (2,1 mSv/a) und setzt sich aus inneren und äußeren Komponenten zusammen (laut LfU 2,4 mSv/a). Je nach Wohnort, Ernährungs- und Lebensgewohnheit variiert die Strahlenbelastung im Bundesgebiet dabei zwischen 1 und 10 mSv/a.
Die innere Komponente besteht aus der Aufnahme von natürlichen radioaktiven Stoffen über die Atemluft oder die Nahrung. Zu den natürlichen Radioisotopen in den Nahrungsmitteln zählen neben den langlebigen Radionukliden der Uran-Radium- und Thorium-Zerfallsreihen – darunter die Radioisotope Blei-210 und Polonium-210, die sich vor allem in Fischen und Meeresfrüchten anreichern – sowie das radioaktive Kaliumisotop K-40, das sich überall im Erdboden und somit auch in allen Nahrungsmitteln befindet.
Atome werden als chemische Elemente anhand ihrer Anzahl der positivgeladenen Elementarteilchen (Protonen) im Atomkern bestimmt. So besitzt jedes einzelne Kaliumatom beispielsweise über 19 Protonen in seinem Kern, worüber es als Kaliumatom im Periodensystem definiert wird. Damit sich die positiv geladenen Teilchen nicht wie zwei positiv geladene Magnete abstoßen, werden sie im Atomkern durch einen „Kit“ zusammen gehalten, den Neutronen (ungeladene Elementarteilchen). Durch den Kit allein ist der Atomkern aber noch nicht stabil. Erst durch ein festes Verhältnis zwischen der Anzahl der Protonen und Neutronen im Atomkern stabilisiert sich ein Isotop eines chemischen Elements (– als Isotope werden Atomarten bezeichnet, die dieselbe Anzahl an Protonen im Kern, aber eine unterschiedliche Anzahl an Neutronen im Kern verfügen). Wird die Anzahl der Neutronen über- oder unterschritten, kann der Atomkern zerfallen. So verfügt das stabile Kalium-Isotop Kalium-39 beispielsweise über 19 Protonen und 20 Neutronen. Jedes andere Teilchen, das über 19 Protonen und über eine andere Anzahl an Neutronen verfügt – wie Kalium-40 mit einem Neutron im Kern mehr (20 Protonen und 20 Neutronen) –, kann zerfallen.
In die Nahrungskette gelangen die radioaktiven Isotope aufgrund ihrer chemischen Ähnlichkeit mit den Elementen des Periodensystems. Von den Organismen aufgenommen werden sie in der Regel für dieselben Stoffwechselfunktionen verwendet wie ihre nicht radioaktiven Pendants. Anders als ihre stabilen Grundformen zerfallen sie jedoch mit der Zeit in andere Elemente. Abhängig vom Ausgangsmaterial entstehen dabei entweder stabile oder wiederrum instabile Zerfallsprodukte, wobei bei jedem Zerfall ionisierende Strahlung freigesetzt wird. Diese Form der Strahlung ist im Gegensatz zu nicht ionisierender Strahlung derart energiereich, dass sie in Materie eindringen und diese verändern kann. Hierbei können chemische Verbindungen aufgebrochen oder andere Elemente und Moleküle ionisiert werden. Ionisierung bedeutet, dass aus den Hüllen der Atome oder Moleküle Elektronen „herausgeschlagen“ werden. Übrig bleibt ein elektrisch positiv geladenes Atom – ein Ion. Trifft ionisierende Strahlung auf lebende Organismen, können die dadurch ausgelösten Ionisierungsvorgänge Schäden an den Zellen hervorrufen, das Erbgut verändern und Krebs auslösen. Werden radioaktive Stoffe in den Körper aufgenommen (Inkorporation), belasten sie den Organismus – je nach Strahlungstyp – unterschiedlich stark. Hierbei werden Alpha-, Beta- und Gammastrahlung unterschieden (siehe Infobox 1).
Der weitaus größere Teil der natürlichen Strahlenexposition in Deutschland vollzieht sich mit durchschnittlich 1,1 mSv/a über die Aufnahme des radioaktiven Edelgases Radon-222 durch die Atemluft. Radon entsteht als natürliches Zerfallsprodukt innerhalb der Uran-Radium-Zerfallsreihe und trägt mit Abstand zum größten Teil der natürlichen Strahlenbelastung in Deutschland bei – wenn auch unterschiedlich verteilt. Denn während der bundesweite Mittelwert von circa neun radioaktiven Zerfällen pro Kubikmeter Freiluft (9 Bq/m³) beträgt, finden sich im am Alpenrand Werte zwischen 21 und 24 Bq/m³. Hierbei gibt es sogar kleinteilige regionale Unterschiede. Bereits die Radon-Messstellen des BfS in Regensburg und Straubing unterscheiden sich mit 9,5 Bq/m³ und 16 Bq/m³ deutlich voneinander (Stand 02.10.219). So divergiert die jährliche Strahlenbelastung über Radon in der Freiluft bereits innerhalb weniger Kilometer.
Der erheblichere Teil der Strahlenexposition durch Radon vollzieht sich jedoch in Innenräumen. Denn Radon entsteht nicht an der Oberfläche, sondern bildet sich im Erdboden – und zwar dort, wo Uran zerfällt. Laut Bodenprognosen des BfS finden sich im Stadtraum Regensburg innerhalb des Bereiches Pentling-Kager-Brandlberg-Burgweinting zwischen 7.600 und 59.900 Bq/m³ Radon in der Bodenluft in einem Meter Tiefe. Dringt Radon nun durch undichtes Mauerwerk in Kellergewölbe ein, erhöht sich die Strahlungsbelastung in den Regensburger Kellern erheblich. In Teilen des Bayerischen Walds und im Erzgebirge finden sich sogar noch höhere Werte: 50-200 kBq/m³ und 200-500 kBq/m³. Diese Tatsache macht Radon zu einem Problem in Deutschland, zumal es sich dabei um einen regelmäßig inkorporierten Alphastrahler handelt.
Laut Schätzungen ist Radon-222 für fünf Prozent der bundesweiten Lungenkrebserkrankungen verantwortlich. Mit etwa 1.900 Todesfällen pro Jahr ist Radon nach dem Rauchen der zweitgrößte Verursacher von Lungenkrebs. Bereits im 16. Jahrhundert fielen nachweislich junge Bergarbeiter im Erzgebirge gehäuft einer tödlich verlaufenden Lungenkrankheit zum Opfer. Erst im 20. Jahrhundert konnte man die sogenannte „Schneeberger Krankheit“ als durch Radon ausgelösten Lungenkrebs identifizieren.
Das geruchlose Gas verteilt sich allerdings auch in den oberen Etagen. Je nach Bodenbelastung und Kellerabdichtung kann Radon deshalb durchaus gesundheitsbedenkliche Konzentrationen erreichen, warnt das BfS. Nur durch Messungen über einen längeren Zeitraum lässt sich nachweisen, wie stark Gebäudekeller belastet sind. Eine Verringerung der Radonkonzentration in der Raumluft kann dabei lediglich durch eine Radonsanierung eines undichten Kellers und ein regelmäßiges Lüften der Räume erzielt werden.
Im Schnitt finden sich in deutschen Innenräumen Radonkonzentrationen von 20 bis über 80 Bq/m³. Das BfS warnt allerdings, dass selbst eine leicht erhöhte Radonbelastung über Jahrzehnte hinweg das Lungenkrebsrisiko deutlich erhöhen kann. Die WHO geht davon aus, dass es keinen Schwellenwert gibt, unter dem Radon-222 unbedenklich ist. 13 europäische Studien mit über 20.000 Untersuchungen untermauern diese Einschätzung. Pro 100 Bq/m³ Radon erhöht sich das Lungenkrebsrisiko in einem Zeitraum von 20-30 Jahren um etwa 16 Prozent. Ab einer Konzentration von 300 Bq/m³ in Gebäuden sollten Maßnahmen zur Reduzierung der Radonkonzentration ergriffen werden, so der Fachverband für Strahlenschutz.
Besonders gefährlich wird es, wenn Radonbelastung und Rauchen aufeinandertreffen. Denn Zigarettenrauch enthält nicht nur nicht-radioaktive kanzerogene Stoffe. Schuld ist auch hier Radon-222. Wenn Radon zerfällt, entstehen in der folgenden Zerfallsreihe weitere langlebige radioaktive Isotope wie Blei-210 (Betastrahler) und Polonium-210 (Alphastrahler). Beide werden von der Tabakpflanze über feine Staubhaare an den Blättern aufgenommen und mit dem Zigarettenrauch inhaliert. Da circa 30 Prozent des Rauches einer Zigarette über den Nebenstrom – ungefiltert von Lunge oder Zigarettenfilter – in die Raumluft gelangen, wird auch das Passivrauchen radioaktiv. Bei 20 Zigaretten pro Tag setzen Raucher ihre Lunge einer effektiven Dosis von 0,8 mSv/a aus. Umgerechnet auf den gesamten Körper ergeben sich allerdings Werte zwischen 0,1 bis 0,3 mSv/a.
Zuletzt werden über die Radon-Zerfallsreihe auch Lebensmittel mit radioaktiven Stoffen kontaminiert. Insbesondere Blattgemüse weist höhere Konzentrationen der Radionuklide Blei-210 und Polonium-210 auf. Auch Radon-222 kann sich über Niederschläge auf den Landfrüchten ablagern und die Nahrungsmittel mit dem natürlichen Radioisotop kontaminieren.
Die nicht gasförmigen Radioisotope führen aber auch bei Nichtaufnahme zu einer Strahlenbelastung – der terrestrischen Strahlung. Diese beträgt im Bundesgebiet im Freien circa 0,1 mSv/a. Durch die Verwendung von unterschiedlichen Mineralien in Baustoffen wie Ziegel und Beton, die ebenfalls Spuren radioaktiver Stoffe enthalten – darunter Uran-238, Thorium-232, Radium-226, Radon-222 aber auch K-40 –, erhöht sich die Strahlenexposition in Gebäuden um weitere 0,3 mSv/a.
Besonders das in größeren Tiefen aus Magma erstarrte Granitgestein weist häufig höhere Werte der Uran-Radium- und Thorium-Zerfallsketten auf. Durch eine Ansammlung von Thorium oder Uran im Grundgestein kann die terrestrische Strahlung somit deutlich zunehmen. So kommt es in französischen Granitbezirken zu einer natürlichen Strahlenbelastung von bis zu 4 mSv/a und in Teilen Indiens von bis zu 40 mSv/a. An der Atlantiküste Brasiliens und in Teilen Irans lassen sich sogar Werte von bis zu 200 mSv/a und 450 mSv/a natürlicher Strahlung ausmachen. Da sich die Strahlungswerte je nach Ursprungsort der Granitgesteine unterscheiden, müssen deswegen Hersteller und Importeure aus Strahlenschutzgründen nachweisen, dass die Konzentration natürlicher Radionuklide den gesetzlichen Referenzwerten entspricht. Poröse Baustoffe wie Beton, Ziegel oder Kalksandstein tragen dabei sogar zur Freisetzung von zusätzlichem Radon-222 bei, da es infolge der Uran-Radium-Zerfallsreihe entsteht und durch die Poren diffundiert.
Will man die äußere Komponente der natürlichen Strahlenbelastung messen, betrachtet man in der Regel die Gammastrahlung, die häufig bei einem radioaktiven Alpha- oder Betazerfall zusätzlich freigesetzt wird. Diese wird mittels des ODL-Messnetzwerkes des BfS erfasst und als Gamma-Ortsdosisleistung (ODL) in 0,001 Millisievert pro Stunde (μSv/h) angegeben. Die ODL erfasst dabei sowohl die terrestrische Strahlung als auch die kosmische Strahlung. Auch hier lassen sich bereits auf kleinem Raum deutliche Unterschiede ausmachen. Während die Regensburger einer ODL von 0,09 μSv/h (circa 0,8 mSv/a) ausgesetzt sind, ist man bereits in Bernhardswald fast der doppelten ODL von 0,17 μSv/h ausgesetzt. In Oberviechtach/Neunburg vorm Wald sind es sogar 0,18 μSv/h (circa 1,55 mSv/a) (Stand: 01.10.2019). Die ODL ist in der Regel stabil, unterliegt jedoch kurzzeitigen atmosphärischen und witterungsbedingten Schwankungen zwischen 0,03 und 0,3 μSv/h. Beispielsweise kann der Regen Radonmoleküle aus der Umgebungsluft auf den Boden auswaschen oder zusätzliche Sonneneruptionen – gemessen anhand des Relativen-Sonnenflecken-Indexes RSI – die Strahlungsexposition beeinflussen.
Die äußere Strahlenbelastung hängt zwar vom Wohnort ab, aber nicht allein von den radioaktiven Isotopen im Erdboden oder in den verbauten Materialen. Da die kosmische Strahlung vor allem durch die Moleküle in der Luft absorbiert wird, steigt die Strahlenbelastung mit zunehmender Höhe an, sodass man auf der Zugspitze (circa 0,1 μSv/h) bereits einer vierfachen Strahlenexposition im Vergleich zur Küste (Hamburg (circa 0,03 μSv/h) ausgesetzt ist. Ein Transatlantikflug von München nach Japan führt dabei zu einer effektiven Dosis von 0,1 mSv.
Die natürliche jährliche Strahlenbelastung setzt sich somit im Mittel aus 1,1 mSv/a durch Radon in der Atemluft, 0,3 mSv/a durch K-40 und weitere Zerfallsprodukten der Radon-Zerfallskette in der Nahrung sowie 0,7/a mSv durch die terrestrische und kosmische Strahlung zusammen. Gemeinsam mit der künstlich-zivilisatorischen Strahlenbelastung tragen sie in Deutschland zu einer durchschnittlichen effektiven Gesamtdosis von etwa 4,1 mSv/a bei (Österreich 4,2 mSv/a, Schweiz 5,6 mSv/a ).
Zivilisatorische Strahlenbelastung
Zu den künstlichen Strahlungsquellen zählen neben den circa zweitausend oberirdischen Atomwaffentests des 20. Jahrhunderts, der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und den bei Normalbetrieb entweichenden Radionukliden aus kerntechnischen Anlagen in erster Linie medizinische und technische Anwendungen. Angaben zur mittleren effektiven Jahresdosis unterscheiden sich hier allerdings – ministerielle Angaben liegen abhängig von der Erhebungsdatierung zwischen 1,7 und 2 mSv/a. Der Großteil entfällt dabei mit circa 1,7 mSv/a auf den medizinischen Anwendungsbereich. Dass dem so ist, hat zweierlei Gründe: Zum einen werden nicht nur in der Krebstherapie, der Transfusionsmedizin zur Blutbestrahlung und der nuklearmedizinischen Diagnostik mehr oder weniger hochradioaktive Stoffe verwendet, sondern auch bei zahllosen Anwendungen der Röntgendiagnostik ionisierende Strahlung freigesetzt – insbesondere bei der Computertomographie (siehe Kasten). Da sich die Patienten bei einer Computertomographie – je nach untersuchtem Körperteil – einer Strahlenexposition von bis zu 25 mSv aussetzen können, raten viele Behörden dazu, die möglichen Gefahren der Strahlenbelastung mit der Dringlichkeit der Untersuchung abzuwägen. Nicht zuletzt weil Untersuchungen auf eine signifikante kanzerogene Wirkung der ionisierenden Strahlung verweisen. Bei einer australischen Studie, an der elf Millionen Australier teilnahmen, konnten die Wissenschaftler ein signifikant erhöhtes Krebsrisiko bei 680.000 Personen feststellen, die sich im Kindes- oder Jugendalter einer computertomographischen Untersuchung unterzogen. Ihrem Ergebnis zufolge wirkt bereits eine zusätzliche effektive Dosis von 1,027 mSv kanzerogen. Selbst bei einfacheren Röntgenverfahren mit niedrigen Strahlungswerten empfiehlt das BfS einen Röntgenpass, um unnötige Wiederholungen röntgendiagnostischer Anwendungen zu vermeiden.
Hochradioaktive Stoffe werden allerdings auch von den Materialwissenschaften zur zerstörungsfreien Werkstoffprüfung und bei Füllstands- oder Dichtungsmessung verwendet. Ebenso zählen die Röntgengeräte zur Gepäcküberprüfung an Flughäfen zu den ionisierenden Strahlern, sodass sich bundesweit mehr als 100.000 umschlossene Strahlungsquellen im Einsatz befinden. Alle diese Anwendungen benötigen nach dem deutschen Atomgesetz grundsätzlich eine staatliche Aufsicht, wobei die Annahme und Weitergabe eines Strahlers behördlich meldepflichtig ist. Radioaktive Materialien befinden sich allerdings auch in ganz profanen Gerätschaften wie Quarzuhren oder Ionisationsrauchmeldern. Summa summarum hebt der Mensch mit seinen technischen und medizinischen Entwicklungen die natürliche Strahlungsexposition auf das Doppelte an.
Auch Atommeiler erhöhen die Strahlungsbelastung im Alltag. Entgegen der landläufigen Meinung, kerntechnische Anlagen würden sich erheblich auf die Strahlenexposition auswirken, tragen diese lediglich 0,01 mSv/a zur gesamten zivilisatorischen Strahlenbelastung bei. Die durch AKWs zusätzlich freigesetzte Radioaktivität unterliegt dabei einer strengen staatlichen Kontrolle. Auch hier wird das ODL-Messnetzwerk des BfS zur Überprüfung eingesetzt.
Hochproblematisch wird es allerdings bei den radioaktiven Abfällen aus Atomkraftwerken. Die spezifische Aktivität der hochradioaktiven Spaltprodukte beträgt mehr als 1 Petabecquerel/m³ (1.000.000.000.000.000 Bq/m³). Dieser hochradioaktive Abfall macht in Deutschland zwar nur circa zehn Prozent des gesamten Atommülls aus, trägt aber 99,9 Prozent der gesamten Radioaktivität. Die Frage nach dem Wohin damit, ist bis heute nicht geklärt und heftig umstritten. Bereits die örtliche Zwischenlagerung bereitet den Anwohnern Sorge. Und das nicht ohne Grund, da mittlerweile durchaus valide Studien Auswirkungen des hochradioaktiven Mülls auf die Bevölkerung nachweisen. Scherb und Voigt konnten beispielsweise zeigen, dass in den Umkreisen von Atommülllagern das natürliche Geburtenverhältnis zwischen Mädchen und Jungen auffällig zu Ungunsten der Mädchen beeinflusst wird. Auch in der Umgebung von Atomkraftwerken konnten diese Effekte nachgewiesen werden, wenngleich diese Ergebnisse deutlich strittiger sind.
Tschernobyl im heutigen Bayern
Laut Schätzungen wurden in den ersten zehn Tagen nach der Katastrophe in Tschernobyl mehrere Trillionen Becquerel (1.000.000 Petabecquerel) radioaktiven Materials in die Umwelt geschleudert. Rund 36 Prozent der Gesamtradioaktivität ging laut IPPNW über Weißrussland, Russland und der Ukraine nieder – 53 Prozent der Radioisotope verteilte sich über das restliche Europa – elf Prozent über dem Rest des Globus. Dabei sprang laut LMU die natürliche Strahlenbelastung beim Durchzug der radioaktiven Wolke in Bayern stellenweise kurzeitig um das 20-Fache an. Durch den darauffolgenden Regen wurden Teile Bayerns mit bis zu 100.000 Bq/m² Cäsium-137 kontaminiert, während in der Norddeutschen Tiefebene nur selten 4.000 Bq/m² abgelagert wurden. Doch auch zuvor war der deutsche Boden mit einigen 1.000 Bq/m² Cäsium-137 infolge der globalen Atombombentests belastet. Da es sich bei Cäsium-137 um ein künstliches Radionuklid handelt, dürfte es auf der Erde überhaupt nicht vorkommen.
Betrug die zusätzliche Gammastrahlenbelastung in den ersten Jahren noch circa 1 mSv/a in Bayern, hat sich die Strahlungsintensität bis heute mit rund 0,05 mSv/a deutlich reduziert (laut LfU 0,01 mSv/a). Dies liegt vor allem daran, dass sich die kurzlebigeren radioaktiven Stoffe Jod-131 (Halbwertszeit acht Tage) und Cäsium-134 (Halbwertszeit zwei Jahre) weitestgehend umgewandelt haben. Auch das Radioisotop Cäsium-137 (Halbwertszeit 30 Jahre) ist nicht nur zur Hälfte zerfallen, sondern hat sich im Erdboden fest in Tonminerale gebunden, sodass seine Strahlung im Erdboden bleibt.
Dennoch birgt Cäsium-137 das Potential, zu einer erhöhten Strahlenbelastung bei Mensch und Tier zu führen. Aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Kalium wird es bei Inkorporation in fast jedes organische Gewebe eingebaut, wo es benachbarte Zellen schädigt. Die Effekte einer hohen Cäsiumbelastung sind dabei nicht zu beschönigen: „Frühaborte, Fehl- und Frühgeburten, Fehlbildungen, Chromosomenaberrationen, Leukämie, Lymphome und solide Tumoren, Abwehrschwäche, Autoimmunerkrankungen, Katarakte, Intelligenzminderung, vorzeitiges Altern und weitere strahleninduzierte Pathologien, beispielsweise des Herz-Kreislauf-Systems oder der endokrinen Organe“ können laut Dr. med. Alex Rosen und Dr. med. Angelika Clausen die Folge sein („Strahlenbelastung: 30 Jahre Leben mit Tschernobyl“ – Deutsches Ärzteblatt 2016, 113 (18)).
Betrachtet man die Bodenanalysen des BfS im Raum Bayern lassen sich folgende Werte für Cäsium-137 Werte im Boden ausmachen:
- Schwandorf: 3 Bq/kg – Ackerboden
- Abensberg: 13,33 Bq/kg – Ackerboden
- Cham: 16,4 Bq/kg – unbearbeiteter Erdboden
- Hemau: 16,6 Bq/kg – Ackerboden
- Tegernheim: 20 Bq/kg – unbearbeiteter Erdboden
- Regen: 41 Bq/kg – unbearbeiteter Boden
- Karlshud (südwestl. Ingolstadt): 135 Bq/kg – Ackerboden
- Bischofswiesen (südl. von Salzburg): 296,4 Bq/kg – unbearbeiteter Boden
Zum Vergleich: in Tegernheim finden sich im selben Erdboden 598 Bq/kg Kalium-40, in Cham 564 Bq/kg und in Hemau 459 Bq/kg.
Aber gelangt das Radionuklid Cäsium-137 ebenso wie von Kalium-40 in die Nahrung? Laut umfangreichen Messungen des BfS kaum bis gar nicht. Lebensmittel wie Obst, Getreide, Milch, Gemüse und Mastvieh aus Bayern weisen – wenn überhaupt – nur selten Aktivitäten oberhalb der Nachweisgrenze zwischen 0-1 Bq/kg auf. Ebenso ist das Grundwasser frei von Cäsium-137. Erhöhte bis extrem hohe Werte lassen sich nur in Wildbret und Pilzen finden (siehe Infobox 2).
Denn anders als in Ackerböden, wo sich das Radioisotop Cäsium-137 fest an Tonmineralien bindet und von Pflanzen nicht aufgenommen werden kann, befindet sich das Radionuklid in Wäldern in einem stetigen Kreislauf. Anstatt in die tieferen Erdschichten abzusinken und sich an Minerale zu binden, nehmen Pilze den radioaktiven Stoff über ihr unteririsches Fädengeflecht auf. Da sich Bäume zum Teil über dieses Pilzgeflecht mit Nährstoffen versorgen, gelangt das Cäsium auch in ihre Stämme und Blätter. Fallen die Blätter im Herbst zu Boden, zersetzen sie sich, und das Cäsium wird wieder von den Pilzfäden aufgenommen, wo es sich im Herbst in ihren Fruchtkörpern anreichert. Dabei ist allerdings nicht nur jeder Standort pro Jahr anders belastet, auch dieselbe Pilzart kann im selben Wald unterschiedlich stark belastet sein – zwischen ungefährlich bis zu einigen 1.000 Bq/kg. Überdurchschnittlich stark belastet können vor allem der Rotbraune Semmelstoppelpilz und der Braunscheibige sowie Orangefalbe Schneckling sein, mit gemessenen Maximalwerten von 2.800 Bq/kg, 2.400 Bq/kg und 2.000 Bq/kg. Auch Steinpilze und Pfifferlinge können noch mehrere Hundert Bq/kg aufweisen. Lediglich der Parasolpilz enthält meist weniger als 10 Bq/kg. Das heißt, dass eine einzige Mahlzeit hochverstrahlter Pilze bereits die komplette Jahresaufnahme von Cäsium-137 über landwirtschaftliche Produkte übersteigt. Besonders stark kontaminierte Gebiete finden sich im Donaumoos, einzelnen kleineren Gebiete im Bayerischen Wald, im Berchtesgadener Land sowie in der Region Mittenwald. Diese Gebiete wurden durch starke Gewitter nach der Reaktorkatstrophe zehnmal höher mit Cäsium kontaminiert als Norddeutschland.
Wildschweine ernähren sich neben Feldfrüchten oder Kleinstlebewesen im Waldboden besonders gerne von Pilzen. Mit ihren feinen Nasen stöbern sie allerdings auch Pilze im Erdboden auf, wie die für den Menschen ungenießbaren Hirschtrüffel. Diese sind besonders stark mit Cäsium belastet und können sogar Messwerte von bis zu 48.000 Bq/kg erreichen. Um die Strahlenbelastung durch den Verzehr von Wildbret für den Menschen so gering wie möglich zu halten, werden alle Wildprodukte in Radiocäsium-Messstationen untersucht, ob sie den gesetzlichen Grenzwert von 600 Bq/kg Fleisch einhalten. Nur nachweißlich getestetes Wildfleisch unterhalb dieses Grenzwerts darf in Deutschland in den Verkauf gelangen. Im besonders vom Fallout betroffenen Landkreis Regen wandern deswegen noch heute über 50 Prozent der geschossenen Wildschweine in die Tonne – fünf bis zehn Prozent davon überschreiten dabei sogar eine spezifische Aktivität von 10.000 Bq/kg Wildbret.
Um Wildbret in ausreichenden Mengen für die Gastronomie oder den Handel zu erzeugen, werden viele Wildtiere in Gehegen gehalten und mit landwirtschaftlichen Produkten gefüttert. Von den 127 in Bayern untersuchten Wildschweinproben aus dem Handel wiesen deswegen 65 Prozent der Proben einen Radiocäsiumgehalt von 10 Bq/kg auf. 23 Prozent der Proben blieben dabei unter 100 Bq/kg.
Das Leben mit der Strahlung
Egal ob in der Luft, im Boden oder in der Nahrung – ionisierende Strahlung umgab den Menschen schon vor der Entdeckung der Radioaktivität durch Antoine-Henri Becquerel im Jahre 1896. Bereits vor dem Menschen war sie jene treibende Kraft, die den Motor der Evolution durch eine Erhöhung der Mutationsraten des Erbguts beschleunigt hat. Und dennoch ist zu beobachten, dass die effektive Jahresdosis durch technische und wissenschaftliche Innovationen in den letzten Jahrzenten angestiegen ist. Ebenso haben die Reaktorkatastrophen in Tschernobyl, Fukushima oder Kyschtym sowie die über 2.000 oberirdischen Kernwaffentests, der Abbau radioaktiver Gesteine und deren Verwendung in kerntechnischer Anlagen zu einem Anstieg der künstlichen Strahlenbelastung auf dem Globus beigetragen. Die Erhöhung der Strahlenbelastung hat sich dabei zu einem beobachtbaren Anstieg der genetischen Schäden innerhalb der Zivilbevölkerung geführt.
Einer Studie des International Journal of Cancer zufolge werden alleine durch den Fallout der Tschernobylkatastrophe über Europa bis zum Jahr 2065 etwa 41.000 zusätzliche Krebsfälle und mehr als 15.000 Krebstode erwartet. Die Effekte der globalen Atomwaffentests auf die Gesundheit der Europäer sind hierbei noch nicht erfasst. Doch auch hier sind bereits erhöhte Krebsraten um die Testgebiete wie in Französisch-Polynesien oder Algerien bekannt.
In Maßen ist Radioaktivität für den menschlichen Körper jedoch kein Problem. Denn selbst wenn die DNA einer Zelle durch ionisierende Strahlung geschädigt wird, ist die Zelle in der Lage, ihre defekten DNA-Bausteine eigenständig zu entfernen und zu reparieren – wie jüngst die Chemie-Nobelpreisträger Tomas Lindahl (77), Paul Modrich (69) und Aziz Sancar herausfinden konnten. Erst diese Tatsache ermöglicht das Leben in einer natürlich strahlenden Umgebung.