Süß – salzig – sauer – bitter: Geschmacklich leben wir aus traditioneller Sicht in einer viergeteilten Welt. Doch die Wissenschaft hat gezeigt, dass die Zunge weitaus mehr kann, als lediglich vier eigenständige Geschmäcker wahrzunehmen: Eine Reise in die Welt des Geschmacks und seinem Sinn.
Der Geschmack einer Speise entsteht durch das Zusammenspiel vielfältigster Sinneseindrücke. Neben den Geschmacksrezeptoren auf der Zunge sind vor allem Riechzellen in der Nase für unser Geschmacksempfinden verantwortlich. Aber auch der Tastsinn sowie Schmerz- und Temperaturrezeptoren auf der Zunge liefern uns Informationen, die den Charakter eines Gerichts oder Lebensmittels definieren. Die biologische Bedeutung des Geschmacksinns liegt aber keineswegs im Genuss von komplexen Aromen, sondern in der Prüfung potentieller Nahrung auf ihre Genießbarkeit.
Während wir in der Nase über rund 350 unterschiedliche Duftrezeptoren verfügen, kam die Zunge nach westlicher Tradition gerade einmal auf vier unterschiedliche Geschmacksrezeptoren: süß, salzig, sauer und bitter. Erst die Entdeckung einer fünften Geschmacksqualität mit eigenen Rezeptoren im Jahr 1908 brachte die Vorstellung einer viergeteilten Geschmackswelt ins Wanken. Jüngste Versuchsergebnisse deuten sogar darauf hin, dass der Geschmackssinn weit komplexer ist als gedacht. Die Rezeptoren der Zunge haben sich dabei aber nicht willkürlich entwickelt. Jeder Rezeptor lieferte unseren Vorfahren wichtige Informationen, die letztlich ihr Überleben sicherten.
Süß: Motor des Lebens
Süßes ist für uns meist unwiderstehlich und besonders begehrenswert. Grund hierfür ist die Tatsache, dass diese Geschmacksqualität durch jegliche Art von Zucker ausgelöst wird und unseren Organismus darauf hinweisen soll, dass die verzehrte Speise über eine große Menge an energiereichen Kohlenhydraten verfügt. Denn die aus Zuckern gewonnene Energie ist für uns Menschen von herausragender Bedeutung: Zucker ist nicht nur Treibstoff für unsere Muskeln, sondern auch ausnahmslose Energiequelle auch für unser Gehirn. Während hingegen unsere Muskeln verschiedene Energiequellen wie Fett oder Protein anzapfen können, ist unser Gehirn auf rund 140 Gramm Glucose pro Tag angewiesen. Lässt der Blutzuckerspiegel und somit auch die unserem Gehirn zur Verfügung stehende Energie nach, stellen sich neben Konzentrationsschwächen und Kopfschmerzen unter anderem weitere Symptome wie Nervosität, Blässe, Heißhunger oder leichte Reizbarkeit ein.
Unsere Vorliebe für Süßes hat aber noch einen weiteren Hintergrund: Da giftige Lebensmittel selten süß sind, bietet das Erkennen von Süße aus evolutionsbiologischer Sicht eine wichtige Orientierungshilfe, ungiftige Lebensmittel von giftigen zu unterscheiden.
Sauer: der Verlockung widerstehen
Die Geschmacksqualität sauer basiert auf der Wahrnehmung von Wasserstoff-Ionen, die von Säuren in einer wässrigen Lösung abgespaltet werden. Die häufigsten in natürlichen Lebensmitteln vorkommenden Säuren sind die Zitronen- oder Apfelsäure. Besonders hohe Konzentrationen der Säuren sind vor allem in unreifen Früchten enthalten. Evolutionsbiologischer Zweck der Wahrnehmung von Säuren besteht darin, den süßen Geschmack des darin enthaltenen Zuckers zu überdecken. Würde uns dieser Geschmackssinn fehlen, könnte der übermäßige Verzehr von unreifen Früchten unseren Säure-Base-Haushalt aus dem Gleichgewicht bringen und neben unserer Leistungsfähigkeit auch unsere Gesundheit erheblich beeinträchtigen. Sinkt der pH-Wert des Blutes unter 7,35 spricht man von Azidose: Die Folgen können unter anderem ein Sinken der Herzleistung, Muskelabbau sowie Störungen des Knochenaufbaus sein.
Zudem warnt uns der Geschmackssinn vor verdorbenen Lebensmitteln. In der Regel wird dieser Geschmack von Kindern bis zum zweiten Jahr abgelehnt.
Salzig: den Wasserhaushalt regulieren
Salz zählt zu den wichtigsten Grundbausteinen des Lebens und ist an zahlreichen Stoffwechselprozessen sowie am Wasserhaushalt beteiligt. Im Körper eines Erwachsenen befinden sich in etwa 150 bis 300 Gramm gelösten Salzes, die es für einen reibungslosen Ablauf der physiologischen Prozesse unbedingt zu erhalten gilt. Hierfür benötigt ein Erwachsener mindestens 1,4 Gramm Salz pro Tag. Da der Mensch durch Schwitzen aufgrund körperlicher Arbeit oder Sport bis zu 20 Gramm verlieren kann, ist ein Erkennen von Salz über den Geschmackssinn überlebenswichtig. Denn Salz bindet Wasser, sodass ein Salzmangel zur Austrocknung mit frühen Begleiterscheinungen wie Kopf- und Muskelschmerzen oder Krämpfen führt. Aber auch ein zu viel an Salz kann unserem Körper erheblich Schaden zufügen, weshalb der Körper bei der Aufnahme von viel Salz auf einmal mit Erbrechen reagiert.
Bitter: Warnung vor Giftigem und Ungenießbarem
Der Lauf der Evolution hat uns nicht grundlos mit der Wahrnehmung von diversen Bitterstoffen in Lebensmitteln ausgestattet. Das Vermögen Bitterstoffe wahrzunehmen war dabei derart bedeutungsvoll, dass die für Bitterstoffe zuständigen Rezeptoren 10.000 Mal empfindlicher reagieren als die Rezeptoren für Süße. Der Sinn dahinter ist einfach: Um zu verhindern, dass sie auf den Speiseplan von Pflanzenfressern landen, stellen zahlreiche Pflanzen Giftstoffe her – darunter auch sogenannte zyanogene Glukopyranoside. Landen diese Stoffe im Verdauungstrakt werden sie im Magen-Darm-Trakt unter anderem zu Cyanwasserstoff, besser bekannt als Blausäure, umgebaut. Da bereits ein bis zwei Milligramm Blausäure pro Kilogramm Körpermasse tödlich wirken, hat sich die sensible Wahrnehmung und Meidung dieser Giftstoffe aufgrund ihres bitteren Geschmacks mehr als vorteilhaft erwiesen.
Dennoch haben Bitterstoffe auch positive Seiten – sie wirken sich nämlich förderlich auf die Verdauung aus. Um von den positiven Aspekten der Bitterstoffe zu profitieren, ändert sich der Geschmackssinn im Laufe der Kindheit. Aus evolutionärer Sicht macht dies auch Sinn: Eine hochsensible Reaktion auf Bitterstoffe in den ersten Lebensjahren schützt den Nachwuchs vor Vergiftungen. Ein Nachlassen der Empfindlichkeit ermöglicht es uns, die zuträglichen Eigenschaften der Bitterstoffe auf unseren Verdauungstrakt im Alter wahrzunehmen. Zusätzlich kommen Bitterstoffe in zahlreichen gesunden Gemüsesorten vor, die vornehmlich unserer Gesunderhaltung dienen.
Umami: Grundbausteine des Lebens
Mit der Entdeckung der Geschmacksqualität Umami im Jahr 1908 kam unser Verständnis des Geschmacksinns ins Wanken. Obwohl dieser Geschmackssinn in der westlichen Welt langezeit unterschlagen wurde, ist er aus evolutionsbiologischer Sicht unverzichtbar für unser Leben. Denn ausgelöst wird er durch die Grundbausteine allen uns bekannten Lebens: Proteine. Wörtlich übersetzt bedeutet Umami „Schmackhaftigkeit“ und bedeutet so viel wie „würzig und köstlich“.
Die für Umami zuständigen Rezeptoren springen dabei auf die Aminosäuren Glutaminsäure und Asparaginsäure an, die sich hauptsächlich in proteinreichen Lebensmitteln wie allen Arten von Fleisch, Käse oder Pilzen befindet. Zusätzlich stecken sie in etlichen Gemüsesorten wie Tomaten oder Sellerie sowie in fermentierten Lebensmitteln wie Soja-Sauce.
Gut zu wissen: Glutamat wird in der Lebensmittelindustrie gerne als Geschmacksverstärker eingesetzt, um eigentlich nährstoffarme Gerichte wohlschmeckender zu machen. Der Einsatz von Glutamat war lange Zeit umstritten und wurde als gesundheitsschädlich diskutiert. Auch eine mögliche krebsfördernde Wirkung war Teil der Debatte. Mittlerweile geben Ernährungswissenschaftler, Verbände und Institute wie das Bundesinstitut für Risikobewertung bei einem Verzehr üblicher Mengen Entwarnung, zumal die Aminosäure auf natürlicherweise in Lebensmitteln vorkommt.
„The Sixth Sense“
Unser Geschmackssinn scheint aber noch deutlich vielfältiger zu sein, als ursprünglich angenommen wurde. Denn die Zunge soll ersten Untersuchungsergebnissen zufolge womöglich auch über eigene Fett-Rezeptoren verfügen. Ähnlich wie bei umami und süß sollen uns diese Rezeptoren den belohnen, wenn wir für den Organismus wertvolle Nahrung zu uns nehmen – hier in Form von langkettigen Fettsäuren. Ob es sich dabei um einen tatsächlich eigenständigen Rezeptor mit separater Informationsweiterleitung handelt, muss allerdings noch geprüft werden. Der Schluss liegt aber sehr nah, da Fette sowohl energiereich sind als auch zu bestimmten Teilen essentielle Bausteine des Lebens darstellen.
Neben „fett“ gibt es noch weitere Kandidaten. Beispielsweise „starchy“ („stärkehaltig“), den wir Europäer wohl als nudel- oder brotartig und den Asiaten eher als reisartig beschreiben würden. Auch hier wäre ein eigener Rezeptor sinnvoll, da es sich bei Stärke als langkettige Kohlenhydrate ebenfalls um einen wertvollen Energielieferanten handelt. Erste Studienergebnisse weisen daraufhin, dass wir für die Wahrnehmung langkettiger Kohlenhydrate tatsächlich über eigene Rezeptoren verfügen könnten. Weiterhin werden allem Anschein nach auch „Kalzium“ sowie der metallische Geschmack von „Blut“ von eigenen Rezeptoren erfasst, aber auch der Geschmack von Wasser wird momentan als separat wahrnehmbare Geschmacksqualität gehandelt – hier steckt die Forschung allerdings noch in den Kinderschuhen.
RNRed