Noch nie befanden sich so viele COVID-Patienten in intensivmedizinischer Betreuung wie in der vierten Welle – und das, obwohl eine effektive Impfung existiert. Wir haben uns mit dem leitenden Oberarzt der Intensivmedizin des Krankenhauses St. Josef, Dr. med. Werner Kargl, über die Arbeitsbelastung auf der Intensivstation und den Sinn einer Impfpflicht unterhalten.
Herr Dr. Kargl, wie hoch ist aktuell die Belastung der Ärzte und Pflegekräfte auf der Intensivstation im Caritas-Krankenhaus St. Josef?
Die Belastung der Ärzte und Pflegekräfte auf der Intensivstation ist sehr hoch. Die Station ist quasi ständig voll- oder überbelegt. Zudem sind unsere Patienten sehr aufwendig in der Pflege und müssen häufig in Bauchlage gebracht werden. Das ist eine der wirksamsten Therapiemaßnahmen bei Lungenversagen infolge einer COVID-Erkrankung. Letztlich sterben aber auch viele Patienten, was psychisch sehr belastend ist.
Wie haben Sie und Ihr Team in den letzten Wochen auf der Intensivstation erlebt? Und wie bewerten Sie die Stimmung im Team?
Die Stimmung im Team war in den letzten Wochen teilweise sehr schlecht – vor allem als die Überbelegung Formen bisher nicht gekannten Ausmaßes angenommen hat. Wir waren teilweise mit drei bis vier Patienten überbelegt. Regulär verfügen wird über zehn Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit und über fünf Intermediate Care Betten (Anm. d. Red.: Die IMC ist eine Behandlungsstufe zwischen Normalstation und Intensivstation). Zusätzlich haben wir noch vier weitere Betten, hierfür fehlt uns jedoch das Personal, welches die Patienten betreuen könnte. Diese Betten mussten zeitweise aber trotzdem komplett mit belegt werden – und zwar mit dem Personal, das eigentlich nur auf zehn plus fünf Betten ausgelegt ist. Das alles hat die Stimmung natürlich massiv gedrückt.
Inzwischen erhalten wir durch das Verschieben von Operationen Unterstützung aus der Anästhesie-Pflege, OP-Pflege und von den Normalstationen. Außerdem hat sich die Möglichkeit ergeben, Patienten überregional zu verlegen, wodurch wir die Gesamtzahl unserer Patienten wieder etwas reduzieren konnten. Dadurch ist die Stimmung auch wieder besser und es ist eine Grundhaltung des Anpackens dominierend.
Es ist schön, zu sehen, dass der Zusammenhalt im Team sehr gut ist.Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) berichtet Ende Oktober von fehlenden Pflegekräften und infolge dessen auch von fehlenden Intensivbetten. Wie beurteilen Sie die Situation und wie stellt sie sich in Ihrem Krankenhaus dar?
Die Anzahl an verfügbaren Intensivbetten ist in Deutschland im Vergleich zu den ersten drei Wellen um etwa 5.000 zurückgegangen. Bei uns hat aber glücklicherweise niemand gekündigt. Da aber aufgrund der hohen Belastung sehr viele Pflegekräfte in unserem Haus ihre Arbeitszeiten deutlich reduziert haben, geraten auch wir unter Druck. Die Anzahl der betreibbaren Intensivbetten konnten wir jedoch halten.
Was halten Sie von der Impfpflicht für Pflege und Klinik, die ab Mitte März 2022 greift? Und was halten Sie von der allgemeinen Impfpflicht in Österreich?
Ich begrüße die Impfpflicht für Klinik- und Pflegepersonal nicht – würde aber eine allgemeine Impfpflicht, wie sie in Österreich geplant ist, durchaus begrüßen. Das ist auch die Haltung der DIVI, die sich ebenfalls gegen eine alleinige Impfpflicht für Ärzte und Pflegekräfte ausgesprochen hat. Die Gründe hierfür sind Folgende: Natürlich muss man den Patienten vor einer Ansteckung durch das Personal schützen, das gilt umgekehrt aber genauso.
Für die Pandemiebekämpfung ist die Impfpflicht für Klinik und Pflege irrelevant: Bei uns auf der Intensivstation sind beispielsweise alle Mitarbeiter geimpft bzw. einer genesen. Und das kann man auch für fast alle Intensivstationen in ganz Deutschland sagen. Und die Impfpflicht für die Allgemeinheit wäre letztlich eine Option, mit der sich die COVID-19-Pandemie besiegen lassen könnte. Im Moment ist die Impfung unsere stärkste Waffe – unsere einzige starke Waffe –, um die Pandemie mit weiteren Allgemeinmaßnahmen wie Kontaktbeschränkungen in den Griff zu bekommen. Ohne die Impfung werden wir die COVID-19-Pandemie nicht loswerden.
Es geht also nicht darum, den medizinischen Bereich durchzuimpfen, sondern darum, dass wir tatsächlich die Pandemie durch eine allgemeine Impfpflicht angehen?
Die Pandemiebekämpfung ist keine Aufgabe, die sich auf eine Berufsgruppe herunterbrechen lässt, sondern die Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Und das erfordert die Solidarität aller – und nicht die Solidarität der Ärzte und Pflegenden, die sich ohnehin rund um die Uhr 7/365 gegen die Krankheit einsetzen. Die Gesellschaft muss erkennen, dass es sich bei der Impfung um eine Pflicht zur Solidarität handelt.
Wie viele COVID-Patienten*innen behandeln Sie derzeit in Ihrem Krankenhaus und wie lange verbleiben diese im Schnitt?
Wir behandeln (Stand: 8. Dezember) in unserem Krankenhaus 23 Patienten mit COVID 19 und Nachweis von SARS-COV-2 – 19 davon auf der Normalstation und vier davon auf der Intensivstation. Die Verweildauer auf der Intensivstation lag in den ersten drei Wellen der Pandemie bei durchschnittlich 16,7 Tagen. Diese hat sich in der vierten Welle auf 7,9 Tage halbiert. Geschuldet ist diese deutliche Verkürzung einem meist viel schwereren Krankheitsverlauf mit rasch einsetzendem Organversagen von Lunge, Niere und Kreislauf und einem leider häufig anschließenden letalen Ausgang.
Im Vergleich zu den vorherigen Varianten schlägt die Delta-Variante somit härter zu?
Wenn ich unsere Patienten betrachte – und wir hatten bis jetzt doch schon über 100 Patienten, 75 aus den ersten drei Wellen und 27 aus der vierten –, ist das schon mein Eindruck. Hier lässt sich sagen, dass die Erkrankung bei der Delta-Variante meist wesentlich schwerer verläuft, auch mit einer höheren Letalität, wodurch sich letztlich die Verweildauer verkürzt.
Es wird immer behauptet, es das Verhältnis von Geimpften und Ungeimpften läge auf der Intensivstation bei 50/50. Welchen Einfluss hat die Impfung auf den Verlauf?
Bei uns im Haus ist der Anteil an Ungeimpften wesentlich höher. Der Schutz der Impfung in Bezug zum Krankheitsverlauf hängt dabei immer davon ab, wie weit die Impfung zurück liegt und mit welchem Impfstoff man geimpft wurde. Die Impfungen von BioNTech/Pfizer, Moderna und AstraZeneca waren hocheffektiv – die Einmalimpfung mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson hatte hingegen die höchste Quote an Durchbruchsinfektionen. Zusätzlich nimmt der Impfschutz auch ab, je länger die Impfung zurückliegt.
Hier gilt: Je höher das Lebensalter ist, umso schneller nimmt dieser in der Regel auch ab. Deswegen ist die empfohlene Booster-Impfung auch dringend notwendig. Wer geimpft ist, kann davon ausgehen, dass er keinen schweren Verlauf zu erwarten hat. Sollte die Impfung vor allem bei älteren, multimorbid erkrankten Personen hingegen länger zurückliegen, ist auch bei Geimpften ein schwerer Verlauf nicht auszuschließen.
Im Jahresverlauf wurden mehrere Medikamente gegen COVID-19 zugelassen. Welche Medikamente kommen derzeit in Ihrer Klinik zum Einsatz und wie erfolgversprechend sind diese?
Auch wenn wir mittlerweile über eine ganze Reihe an Medikamenten verfügen, sind die Möglichkeiten und Erfolge der medikamentösen Therapie sehr ernüchternd. Zur Anwendung kommt beispielsweise Cortison in Form von Dexamethason. Das ist sehr gut validiert und führt zu einer Mortalitätsreduktion von 27,5 auf 24,5 Prozent an Tag 28. Immunmodulatorische Medikamente wie Tocilizumab reduzieren die Mortalität von 30 auf 26 Prozent und die zugelassenen JAK-Inhibitoren wie Baricitinib von zehn auf sechs Prozent.
Diese müssen aber wie die monoklonalen Antikörper sehr früh verabreicht werden. Bei den monoklonalen Antikörpern fällt die Reduktion mit einer Senkung der Mortalität von 29,6 auf 23,7 Prozent deutlicher aus – aber nur, wenn man sie ganz früh einsetzt. Im Grunde wenige Tage nach der Infektion, an denen der Patient selbst noch keine Antikörper gebildet hat. Ansonsten sind sie wirkungslos.
Es gibt in der medikamentösen Therapie somit immer noch keinen Gamechanger?
Beim antiviralen Medikament Remdesevir, das direkt am Virus wirkt, hatte man zwar große Erwartungen und dachte für kurze Zeit, dass dies der erhoffte Gamechanger sei. Doch gerade hier zeigt sich beispielsweise gar keine Mortalitätsreduktion. Alle verwendeten Medikamente können das Outcome im Einzelfall unter Umständen wesentlich, in der Gesamtheit aller Patienten nur marginal beeinflussen, sodass wir prinzipiell über keine wirksame Waffe in der Therapie verfügen. Ein Gamechanger ist tatsächlich nur die Impfung.
Mitte November hatte die Regierung der Oberpfalz den Kliniken empfohlen, sich mit bevorstehenden Triage-Entscheidungen auseinanderzusetzen – ist die derzeitige Situation tatsächlich derart kritisch?
Ja, die Situation ist tatsächlich so kritisch, dass man sich mit dem Thema Triage beschäftigen muss. Denn in den nächsten Wochen könnten wir in eine Situation kommen, in der wir Triage-Entscheidungen treffen müssen. Aktuell können wir die Situation in Süddeutschland zwar durch Verlegungen nach Norddeutschland entschärfen, aber nachdem wir in Deutschland seit annähernd drei Wochen um die 70.000 Infektionen am Tag zählen, werden in den kommenden Wochen ungebremst COVID-Patienten vor den Kliniktüren stehen, die eine (Intensiv-)Behandlung benötigen.
Wenn auch die Intensivstationen im Norden überfüllt sind, ist der Punkt gekommen, an dem Triage-Entscheidungen getroffen werden müssen. Keiner will das erleben. Aber mittlerweile ist das leider ein realistisches Szenario für die nächsten Wochen, vor allem wenn sich Omikron ausbreitet.
Nach welchen Kriterien würde eine Triage durchgeführt werden?
Die Triage kann man grundlegend in „ex ante“ und „ex post“ unterscheiden. „Ex ante“ bedeutet, dass – sollten zwei Patienten um einen Beatmungsplatz konkurrieren – man vor Therapiebeginn entscheiden muss, wer therapiert wird. „Ex post“ heißt, dass im Falle einer kompletten Belegung der Beatmungsplätze die Behandlung eines Patienten beendet wird, um einen anderen Patienten die Behandlung zu ermöglichen. Letzteres ist aber nicht erlaubt. Die Entscheidung, wer einen Therapieplatz erhält, wird nach transparenten medizinischen Kriterien entschieden. Hier würden jene Patienten priorisiert werden, die die höchsten Erfolgschancen auf eine Genesung durch die Behandlung aufweisen.
Das zweite Grundprinzip ist das Gleichheitsgebot: Alle Patienten werden als gleichwertig betrachtet, sodass Kriterien wie Alter oder Impfstatus nicht in die Entscheidungsfindung einfließen dürfen. Für die Priorisierungsentscheidung würden Kriterien wie der Allgemeinzustand und der aktuelle klinische Zustand des Patienten, der Patientenwille sowie bestimmte Laborparameter, die speziell bei COVID eine prognostische Relevanz besitzen, berücksichtigt werden. Die Entscheidung selbst würde nach dem Mehraugenprinzip durch ein Team aus beispielsweise zwei erfahrenen Intensivmedizinern, einem erfahrenen Pflegenden und gegebenenfalls einem Mitglied des Ethik-Komitees getroffen werden.
Mit welchen Belastungen würde das Personal dadurch konfrontiert werden?
Ich denke, bei einer Triage-Entscheidung handelt es sich um eine extrem belastende Situation mit einer enormen Verantwortung, die man nur den Erfahrensten aufbürden sollte. Jüngere Kollegen würden wohl jahrelang mit den Entscheidungen zu kämpfen haben.
Welche Empfehlung geben Sie an die letzten Unentschlossenen und Impfstoff-Skeptiker?
Der Mensch heißt lateinisch Homo sapiens. „Sapiens“ bedeutet „weise“. Und „weise“ bedeutet, dass man bei einer Impfentscheidung auch seinen Verstand mit einsetzen und die für alle offenliegenden Zahlen ansehen sollte. Bei einer COVID-Infektion haben wir in Deutschland aktuell eine Mortalität von 1,6 Prozent. Das heißt, 1,6 Menschen pro 100 positive Fälle sterben – und das ist schon eine Nummer. Bei der Impfung kann man die Mortalität mittlerweile so gut wie vernachlässigen. Und selbst bei einer potenziellen Myokarditis durch einen mRNA-Impfstoff liegt das Risiko vier Mal niedriger als das Risiko, im Zuge einer COVID-Infektion eine Myokarditis zu entwickeln. Insgesamt stellt die Impfung somit das weitaus geringere Risiko dar.
Das heißt: Wenn man sich die Zahlen ansieht, muss man sich ganz klar und ganz schnell für die Impfung entscheiden. Zudem ist der Impfstoff mit insgesamt acht Milliarden Anwendungen eines der am besten erprobten Medikamente der Welt. Bitte warten Sie nicht länger, überwinden Sie Ihre irrationale Angst. Denn wenn man sich vom Verstand leiten lässt, muss man sich impfen lassen.
RNRed