Mit gewissen Themen wird die Gesellschaft nur ungern konfrontiert – Pädophilie gehört sicherlich mit dazu. Dennoch beschäftigt sich hier in Regensburg das Team rund um Professor Dr. Thomas Loew sowohl mit dieser Sexualstörung als auch mit seinen Betroffenen. „Kein Täter werden“ heißt das Projekt, das in der Berliner Charité startete und seit Dezember letzten Jahres auch wieder einen Standort in Regensburg hat. Ziel ist es, präventive Therapie für Pädophile anzubieten, Straftaten zu verhindern und zu zeigen, dass eine Rückkehr in das normale Leben möglich ist. Und das trotz aller Hürden und Schwierigkeiten – denn der Bedarf sei vorhanden, so Professor Loew.
„Kein Täter werden“ eröffnete seinen Standort in Regensburg im Dezember 2021 erneut – bereits 2010 existierte in der Oberpfalz ein Ableger des Projekts mit seinen Wurzeln in der Charité. Aber Professoren gehen in den Ruhestand und die Neuberufung brauche seine Zeit, erklärt Professor Dr. Thomas Loew von der Abteilung für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Regensburg. Der Bedarf sei dennoch schon immer da gewesen, ebenso das benötigte Personal. Jedoch stehe man mit einem Projekt wie „Kein Täter werden“ immer vor bestimmten Hürden – nicht nur organisatorischen, sondern auch vor Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz.
„Wir haben ein Problem in der Aufklärung und im Empowerment“
Pädophilie stellt eines der größten Tabuthemen unserer Gesellschaft dar. Mit gutem Grund: Die sexuelle und romantische Anziehung zu Kindern, die noch nicht in die Pubertät gekommen sind, zieht – sobald aus dieser Zuneigung auch Taten folgen – großes Leid nach sich. Gerade Kinder als Personengruppe stehen unter besonderem Schutz und sexueller Missbrauch stellt die Wurzel tiefer Traumata dar, die die Betroffenen bis weit ins Erwachsenenalter noch verfolgen. So unterscheidet sich Pädophilie auch von anderen Neigungen. Sexuelle Regungen seien normal und gehören zum Leben dazu, so der Mediziner. Jedoch befindet sich Pädophilie auf dem Spektrum dieser Neigungen in einem Extrembereich, der auch in die Kriminalität führen könnte und gegen Gesetze sowie Gesellschaftsregeln spricht.
Problem in der Aufklärung
Der gesellschaftliche Umgang mit Pädophilie und ihrer Behandlung gestalte sich noch holprig, so Projektleiter Prof. Loew. Gewalt sei in weiten Teilen gesellschaftsfähig: „Wir können uns Gewalt zwar im Tatort anschauen, in Filmen oder in anderen Formen der Unterhaltung – sobald es aber zu sexueller Gewalt kommt, wird es schwierig. Wir haben ein Problem damit: In der Aufklärung und im Empowerment der Jugendlichen“, erklärt der Mediziner im Gespräch am Telefon.
Wie weit ist Pädophilie verbreitet?
Dabei handelt es sich bei Kindesmissbrauch um ein gravierendes gesellschaftliches Problem: Die Regensburger MiKADO-Studie beschäftigte sich mit Kindesmissbrauch und möglichen Ursachen sexuellen Interesses gegenüber Kindern und Jugendlichen. Durchgeführt wurde die Studie bis März 2015 durch die Universität Regensburg in Kooperation mit weiteren Universitäten in Bonn, Hamburg, Dresden, Ulm und dem finnischen Turku. Durch repräsentative Befragungen stellte MiKADO fest, dass 8,5 Prozent der Bevölkerung von Kindesmissbrauch betroffen sind und 4,4 Prozent der männlichen Bevölkerung von sexuellen Fantasien mit Kindern berichten – das entspricht etwa 1,8 Millionen Männern in Deutschland. Jedoch werden nicht alle Männer dieser Gruppe auch zu Tätern: 56 Prozent begehen keinen Missbrauch und werden daher Nicht-Täter genannt. Die MiKADO-Studie fordert als Ergebnis ihrer Forschung eine Verstetigung der präventiven Therapieangebote – sowohl für Nicht-Täter als auch für Täter mit pädophiler Neigung. Ebendieses Therapieangebot wird in Regensburg durch „Kein Täter werden“ bereitgestellt.
Prävention und Kriminalität – was leistet „Kein Täter werden“?
Bei dem Projekt handelt es sich um ein vorbeugendes therapeutisches Behandlungsangebot mit seinem Ursprung in der Berliner Charité. Ziel von „Kein Täter werden“ ist es, möglichst niedrigschwellig und anonym eine Therapiemöglichkeit an Personen zu vermitteln, die bei sich selbst eine pädophile Neigung feststellen. „Das Wichtigste an unserem Projekt ist, dass wir eine Dunkelfeld-Ambulanz sind, das heißt, dass nicht direkt mit der Krankenkasse abgerechnet wird“, erläutert Professor Loew und schildert weiter die nächsten Schritte, sobald sich ein möglicher Patient bei ihnen meldet: „Das geht bei uns ähnlich wie bei der Telefonhilfe – also anonym. Die Personen kommen vorbei und führen ein Gespräch, bei dem zunächst geklärt wird, ob das auch unser Thema betrifft – oder ob da nicht auch andere Probleme mitschwingen, die wir nicht behandeln.“ Die Abrechnung der Therapie läuft bei einer erfolgreichen Aufnahme über einen Fonds, der durch das Justizministerium und einen Zusammenschluss der Krankenkassen gespeist wird. Auch bei sonstigen Angelegenheiten – beispielsweise bei organisatorischen Fragen – wird „Kein Täter werden“ durch das Justizministerium, den Spitzenverband der Krankenkassen, die Ludwig-Maximilian-Universität und als Träger vor Ort durch die Bayerische Gesellschaft für Verhaltensmedizin, Verhaltenstherapie und Sexuologie, konkret mit seiner neuen, lokalen IVS-Ambulanz unterstützt.
„Es wird erst zum Problem, wenn es zum Problem wird“
Was oftmals nicht bedacht werde, so Loew, sei, dass Pädophilie eindeutig diagnostizierbar sei und auch „Kein Täter werden“ mit seiner Arbeit ein konkretes Ziel verfolge: die Prävention von Straftaten wie dem Konsum von Kinderpornografie oder selbstständigen Handlungen des Kindesmissbrauchs. Ein Satz, den Professor Loew noch oft im Gespräch wiederholen wird, lautet: „Es wird erst zum Problem, wenn es zum Problem wird.“
Damit ausdrücken möchte er, dass die Pädophilie akut Auswirkungen auf das Verhalten der Patienten haben und dadurch auch ein reguläres Leben verhindern kann. Dazu gehört auch der Konflikt mit dem Gesetz: „Kinderpornografie ist kriminell, ebenso der Konsum“, betont er immer wieder. Auch das gesellschaftliche Verhältnis zur Pädophilie habe sich gewandelt, denn dass man diese nun eindeutig als ein Problem benennen könne, sei nicht selbstverständlich gewesen. „Gerade in den 70er-Jahren gab es Gruppierungen, die das als Lifestyle interpretierten oder die den Freiheitsbegriff sehr speziell betrachteten“, so der Rückblick in den vergangenen Umgang.
„Und dann merkt er: Furchtbar, was ist denn mit mir los?“
Die Frage, die sich vielen stellt, ist sicherlich: Wer meldet sich denn überhaupt bei „Kein Täter werden“? Laut der Regensburger MiKADO-Studie sind 14 Prozent der Männer mit pädophiler Neigung für eine präventive Therapie offen. Oftmals würde der Verdacht schleichend kommen, beispielsweise sobald man bestimmtes Verhalten bei einem selbst beobachten würde, so Professor Thomas Loew. „Nehmen Sie mal einen jungen Mann, der gerne in ein sogenanntes Spaßbad mit Saunalandschaft geht. Eines Tages fällt ihm auf, dass er gerne auch die Kinder dort beobachtet. Dann merkt er bei sich: Furchtbar, was ist denn bei mir los?“, beginnt Prof. Loew seinen Umriss eines möglichen Patienten. Der nächste Schritt wäre, dass der idealtypische Patient damit beginnt, sein Verhalten an die Beobachtung anzupassen – und zum Beispiel das Bad zu den Zeiten aufzusuchen, zu denen sich auch die meisten Kinder dort aufhalten.
Das sei dann der Punkt, an dem sich problematisches Verhalten ausbilde, argumentiert der Leiter der Regensburger Zweigstelle. „Wichtig ist, dass die Nacktheit auch nur ein Teilaspekt ist – wir haben Patienten aus allen Schichten und eben mit allen möglichen Berufen. Also gibt es auch solche, bei denen das Risiko höher ist, weil entsprechende Situationen häufiger entstehen“, erklärt Loew weiter. An diesem Punkt setzt die Therapie an: In Regensburg wird auf Verhaltenstherapie gesetzt, also auf psychotherapeutische Methoden, die das eigene Verhalten in den Fokus nehmen und eine Änderung zum Ziel haben.
Therapie und Medikamente gegen verleitende Gedanken
Dabei sei die Pädophilie einer Suchterkrankung nicht unähnlich, argumentiert Professor Dr. Loew: Man wisse, es gäbe Gesetze und Regeln, die das Verhalten abstrafen – dennoch verleitet einen die Erkrankung dazu nachzugeben. „ ‚Kein Täter werden‘ verfolgt hier auch eine ähnliche Linie wie die Suchtprävention. Aber die Frage, die wir uns tiefer stellen, ist, warum es nicht normal geht – warum ist das Objekt der Begierde nicht eine gleichaltrige Person, sondern ein Kind?“, erläutert Prof. Dr. Loew die anfänglichen Zugänge zur Therapie. Danach arbeite man mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, beispielsweise mit Gedankenstopptechniken oder anderen Möglichkeiten der Selbstregulation. Allerdings existiert für die Behandlung kein einheitliches Verfahrensprotokoll, immer wieder muss man abwägen, welche Methoden für die Patienten geeignet sind – und ob nicht eventuell auch Medikamente zum Einsatz kommen müssten. „Es gibt Situationen, in denen wir die konventionelle Psychiatrie oder die Unterstützung der Hausärzte brauchen, diese können dann Laboruntersuchungen durchführen – man kann ja niemandem Medikamente ohne Kontrolle geben“, so Prof. Dr. Loew über die Entscheidungsfindung zur geeigneten Behandlung. In Regensburg habe es bislang jedoch keinen Fall gegeben, in dem eine medikamentöse Therapie nötig gewesen wäre.
Therapierbar, aber nicht heilbar: Wann fruchtet die Behandlung?
Als Störung der Sexualpräferenz ist Pädophilie nicht heilbar – wann also kann die Therapie dann als erfolgreich angesehen werden? Das Ziel von „Kein Täter werden“ ist es, den Patienten wieder ein strukturiertes Leben zu ermöglichen und sie zur Einsicht zu bringen, dass es diese verzerrte Form der Sexualität nicht braucht. „Sigmund Freud hat mal gesagt, Psychotherapie habe das Ziel, dass Menschen wieder ,lieben und arbeiten‘ können. Und wenn wir an den Punkt kommen, dass unsere Patienten wieder normal leben können und das Problem keines mehr ist, dann können wir zufrieden sein. Es geht um die persönliche Veränderung der Patienten“, beschreibt der Projektleiter die Optimalsituation, in die eine Therapie mit „Kein Täter werden“ münden sollte. Fester Bestandteil des Ziels ist auch, Straftaten zu verhindern und Kriminalität zu unterbinden.
„Es handelt sich nicht um eine Frage der Moral“
„Kein Täter werden“ legt seinen Fokus auch darauf, präventiv gegen Kriminaltaten in Form des Konsums von Kindesmissbrauch vorzugehen. Insbesondere das Internet habe den Zugriff auf derartige Inhalte erleichtert, erklärt Prof. Dr. Loew. „Früher war das wesentlich komplizierter: Man musste sich Zugang zu den entsprechenden Fotografien oder Videokassetten beschaffen, da war die Hemmschwelle logischerweise höher – immerhin musste ich mich direkt mit Menschen in Kontakt setzen“, beschreibt der Projektleiter die Situation vor noch einigen Jahren. Dr. Petya Schuhmann, eine der ersten Kontaktpersonen bei „Kein Täter werden“ forschte zur Kriminalität und stellte fest: Etwa die Hälfte der Insassen in Fällen des Kindesmissbrauchs konsumierte ausschließlich Kinderpornografie. Diese sei nicht nur im Darknet auffindbar, sondern auch ohne große Bemühungen im herkömmlichen Web. Aber das Internet ermöglicht nicht nur den Zugang, sondern auch die Verfolgung der Straftaten. Denn auch im WWW könne man leicht gefunden werden, insbesondere dank der stetigen Verbesserung der Technik und der Verfolgungsmethoden durch die zuständigen Sonderkommissionen. Bei der Verurteilung der Straftaten handle es sich auch keineswegs um eine Moralfrage, so Loew – er sei kein Pfarrer und kein Richter, erklärt er seinen Patienten.
„Kein Täter werden“: Hürden und Herausforderungen
Die Arbeit zu einem derartig heiklen Thema verlangt auch dem Team um Prof. Dr. Loew einiges ab. Im Kern sei es dennoch eine Frage der professionellen Einstellung und des Willens, sich mit einem Thema abseits des Mainstreams beschäftigen zu wollen, erklärt er. Man müsse Anreizssysteme schaffen, die den Zugang zu diesen Feldern erleichtern, denn in der regulären Psychotherapeutenausbildung spiele die Sexualtherapie noch eine marginale Rolle. Dennoch eignet sich Regensburg besonders als Standort für ein Projekt wie „Kein Täter werden“, denn das Umfeld bietet die Möglichkeit, zu solchen Feldern zu forschen. Und auch die Lage der Stadt passt in das Projektkonzept: Mit Regensburg könne man einen anderen Einzugsradius an Patienten bedienen und so auch Personen aus der Oberpfalz und Niederbayern den Zugang zum therapeutischen Angebot erleichtern.
Dennoch gab es auch hier einige Hürden, die es zu überwinden galt. Die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten gestaltete sich zunächst schwieriger als gedacht, nicht zuletzt auch wegen dem Unbehagen, das einigen Vermietern nach einer Beschreibung des Projekts aufkam. Selbstverständlich mussten auch anderweitige Kriterien berücksichtigt werden, so zum Beispiel die nötige Entfernung zu Kindergärten, Schulen oder anderen Jugendeinrichtungen.
Bedarf ist vorhanden – nun folgt mehr Arbeit
Nun – nach etwa zwei Monaten regulären Betriebs seit der Eröffnung im Dezember – ist man mit „Kein Täter werden“ angekommen und der Alltag stellt sich ein. „Wir sind überrascht, wie viel Resonanz wir hier hatten“, gibt Prof. Dr. Loew hinsichtlich des Bedarfes der Präventionsstelle zu. Zu den genauen Zahlen der Patienten in Behandlung möchte man sich nicht äußern, jedoch liegen diese bereits im zweistelligen Bereich. Ende März sei noch einiges an Ausstattung in den neuen Räumen angekommen, womit man sich jetzt auch wieder auf einen Normalbetrieb einstellen könne, erzählt der Projektleiter gegen Ende des Interviews.
Nach zwei Jahren der „Zwangspause“ kann man sich nun auch bei „Kein Täter werden“ in Regensburg wieder seinem Hauptziel mit voller Aufmerksamkeit zuwenden: der Prävention von Straftaten und der Ermöglichung in ein geregeltes Leben durch die persönliche Veränderung ihrer Patienten.
RNRed