Ohne das Huhn wäre unser aktueller Speiseplan deutlich weniger vielfältig, basieren viele Gerichte doch auf Eiern oder setzen auf das saftige Fleisch des Geflügels. Wie kam es überhaupt dazu, dass das Huhn zu einem festen Begleiter des Menschen wurde und wie lebt es sich als optimierte Industrie-Henne?
Imposante Naturdokumentationen vermitteln uns den Eindruck, die Erde sei mit zahlreichen wild lebenden Tieren bevölkert. Doch das stimmt keineswegs. Bezogen auf die biologische Gesamtmasse leben nur etwa vier Prozent aller auf dem Planeten lebenden Säugetiere in freier Wildbahn – der Rest bringt dem Menschen entweder auf irgendeine Art und Weise einen direkten Nutzen oder ist selbst ein Mensch. Besonders prominent: Das Huhn.
Das Haushuhn – Ein Steckbrief
Domestiziert vor: etwa 5.000 Jahren
Züchtungen: etwa 180 verschiedene Rassen
Anzahl an Hühner weltweit: rund 25 bis 33 Milliarden
Natürliche Lebenserwartung: 8 bis 15 Jahre
Lebenserwartung Legehenne: 20 Monate
Lebenserwartung Masthuhn: etwa 40 Tage
Herkunft der Henne
Die Vorfahren unserer Haushühner waren ursprünglich in Südostasien beheimatet und wurden vor rund 5.000 Jahren vom Menschen im heutigen Indien domestiziert. Allen Rassehühnern dabei gemein: Sie stammen allesamt von mindestens zwei der vier bekannten Urhuhnrassen ab – dem südostasiatischen Roten Kammhuhn (Bankivahuhn) und dem indischen Grauen Kammhuhn (Sonnerathuhn).
Ihren Weg in europäische Ställe fand das – eigentlich im Unterholz südostasiatischer Waldränder beheimatete – Geflügel um rund 1.200 vor Christus. Den Durchbruch bei der Verbreitung des Haushuhns als Fleisch- und Eierlieferant verdankt das Huhn dabei den Römern. Während sich das Huhn in anderen Kulturen überwiegend als wichtiger Bestandteil zahlreicher Riten etablierte oder gar einen Namen als gefährliche Kampfmaschine in blutigen Hahnenkämpfen gemacht hatte, widmeten sich die Römer der Zucht von Rassen, die erstmals in der Lage waren, höhere Mengen an Eier zu legen und Fleisch anzusetzen. Um den Hunger des sich ausbreitenden Imperiums nach zartem Hühnerfleisch und gehaltvollen Hühnereiern zu stillen, entlockten die Römer den fleißigsten Hühnern nicht nur eine Legeleistung von rund sechzig Eiern im Jahr, sondern erfanden überdies bereits im 2. Jahrhundert vor Christus eine Methode, die die Mast von Hähnen erheblich beschleunigen konnte.
„Ich wünscht’ ich wär ein Huhn“?
Im Gegensatz zum hochgezüchteten, drei bis fünf Kilogramm schweren Federvieh von heute handelt es sich bei den Urhühnern mit 500 bis 1.300 Gramm um eher zierliche Vögel. Auch hinsichtlich der Legeleistung zeigen sie sich im Vergleich zu den heutigen Nutztieren relativ bescheiden. Alles in allem legen die heute auf der Roten Liste bedrohten Arten geführten Urhühner in etwa zwanzig Eier pro Jahr. Eine Leistung, mit der heutige Landwirtschaftsbetriebe wohl kaum kostendeckend arbeiten könnten. Um Profit zu generieren, wurde die Legeleistung speziell gezüchteter Legehühner in den letzten Jahrzehnten optimiert. Mit bis zu 350 Eiern im Jahr beträgt die Legeleistung der Turbohennen von heute fast das zwanzigfache der Urhühner und entspricht damit in etwa der Menge des in der deutschen Folklore besungenen, täglich gelegten Hühnereies.
Eine Null mit Folgen
Heute leben viermal mehr Hühner auf dem Globus als Menschen. Der Grund hierfür liegt in der Ausbeutung der Rassehühner als preisgünstiges Mastvieh und hochgezüchtete Legemaschine. Zur intensiven Ausbeutung der Hühner kam es aber erst durch einen kleinen Irrtum vor knapp Einhundert Jahren. Im Jahr 1923 bestellte die Hausfrau Celia Steele im US-Bundesstaat Delaware Nachschub für ihr kleines, etwa fünf Quadratmeter großes Hühnerhaus. Anstelle der bestellten fünfzig Eintagsküken werden der amerikanischen Hausfrau allerdings fünfhundert Stück geliefert – ein Irrtum mit weitreichenden Folgen. Denn anstatt die Küken zurückzuschicken, entscheidet sich Steele dafür, die Tieren in ihrem kleinen beheizten Hühnerhaus über den kommenden Winter zu bringen: 113 Tiere verenden, den Rest verkauft sie im folgenden Frühjahr für rund 1,40 Dollar pro Stück. Ein rentables Geschäft, das Steele auszunutzen wusste, denn aus den anfänglich 500 falschgelieferten Küken des Vorjahres wurde bereits im selben Jahr eine Bestellung von 1.000 Eintagsküken, im nächsten Jahr eine Bestellung von 10.000 Küken. Zehn Jahre später besaß Steele sage und schreibe 250.000 Hühner.
Verhaltensstörung mit Vorteilen
Während Steele per Zufall das ökonomische Potenzial der Massentierhaltung aus der Taufe hob, hatte wenige Jahre zuvor ein anderer US-Amerikaner den methodischen Grundstein für eine weitaus finstere Revolution gelegt: die Legebatterie. 1911 erforschte der Agrarwissenschaftler Thomas J. Hulpin die Auswirkungen der Käfighaltung auf das Haushuhn und sperrte an der Universität Wisconsin Legehennen in Käfige. Der Befund: Die Hühner fraßen deutlich weniger, wodurch sie weniger Futter und Platz benötigten. Auch der Parasitenbefall ließ sich besser beobachten und die Eier waren deutlich sauberer. Bereits 1924 wurden in der Ohio Agricultural Experimental Station die ersten Käfige übereinandergestapelt – ein System, das perfektioniert nicht nur einhundert Legehennen pro Quadratmeter ermöglichen, sondern sich noch im selben Jahrzehnt in den USA durchsetzen und sich nach und nach auf dem gesamten Globus ausbreiten sollte.
So gut wie hier werden nicht alle Hühner behandelt. Viele Hühne leben heute auf einer Fläche, die nicht größer als ein DIN-A4-Blatt ist.
Legebatterien – Fensterlose Gefängnisse
Die Bedingungen in einer Legebatterie sind die reinste Folter: Die Ställe sind fensterlos. Lampen sorgen mit einem gesteuerten Tag-Nacht-Zyklus für 18 Stunden Sonnenlicht und damit nicht nur für einen immerwährenden Sommer, sondern zugleich für eine optimale Legeleistung. Vier Hühner teilen sich einen 40 Mal 45 Zentimeter großen, leicht schrägen Käfig aus Draht. Alles ist per Knopfdruck bedienbar: Der Kot fällt durch das Bodengitter auf ein Fließband, die Eier rollen die leichte Schräge hinab auf ein anderes Fließband – auch Wasser und Futter werden von einem Fließband transportiert, sodass sich 50.000 Hühner, denen jeweils weniger Fläche als ein DIN-A4-Blatt zum Leben und Legen bleibt, von nur einem Menschen betreuen lassen. Doch zu den Folgen der Reizarmut und des Bewegungsmangels zählen nicht nur Verhaltensstörungen mit Gefieder-, Knochen- und Krallenschäden, sondern ein reduzierter Futterverbrauch von 170 Gramm pro Ei. Damit sich die Hühner im Käfig nicht tothacken, wird ihnen der Schnabel gekürzt – und natürlich auch das ist automatisiert.
Tierwohl und natürlichere Haltungsformen
Nach Jahrzehnten wiederkehrender Skandale in Hühnerfabriken verabschiedete die EU im Juli 1999 eine Richtline, die diese Form der Käfighaltung nach einer erheblichen Übergangsfrist ab dem 1. Januar 2012 aus der EU verbannen sollte. Die neue Form der „ausgestalteten Käfighaltung“ (auch Kleingruppenhaltung genannt) muss Hühnern in Kleingruppen von bis zu sechzig Hühnern neben 800 Quadratzentimeter pro Henne (zuvor 550 qcm) ein Mindestmaß an natürlichem Verhalten ermöglichen – hierzu zählen der Zugang zu einem abgedunkelten Nest, Sitzstangen zum Aufbaumen und Einstreu zum Sandbaden und Scharren.
© Fleischatlas 2013 / BartzStockmar
Laut Statistisches Bundesamt lebten 2020 rund sechs Prozent aller deutschen Hühner in dieser Form der Kleingruppenhaltung. Rund 61 Prozent lebten in der Haltungsform „Bodenhaltung“, zwanzig Prozent in Freilandhaltung und weitere 12 Prozent in ökologischer Freilandhaltung.
Ein Blick über den großen Teich zeigt jedoch: Das EU-weite Verbot ist nur der Tropfen auf dem heißen Stein, denn mit Ihrem Verbot steht die EU mit Ausnahme von wenigen anderen Ländern allein auf weiter Flur. Und während man in Kanada immerhin von einem Verbot ab 2036 spricht, hält man auch in den USA in 44 Bundesstaaten an der Legebatterie fest – vom Rest der Welt ganz zu schweigen.
Willibald J. Ferstl / RNRed