„Die Jugend von heute ist zu faul zum Arbeiten“
„Die jungen Leute haben das Arbeiten verlernt“
„Jugendliche interessieren sich nur noch für Social Media und chillen“
Solche Aussagen über die „Jugend von heute“ treten in den letzten Jahren wieder häufiger auf. Hervorgerufen wurde die Diskussion in erster Linie vom aktuell vorherrschenden Fachkräftemangel, von dem besonders Berufe wie die Pflege oder das Handwerk betroffen zu sein scheinen – Betriebe und Einrichtungen suchen hier händeringend nach Nachwuchskräften. Ein Grund dafür scheint zu sein, dass immer weniger junge Menschen eine Ausbildung machen wollen. Doch warum ist das so? Gehen die meisten lieber studieren? Streben sie im Kontext der Ära der Selbstverwirklichung einem „erfüllenden“ Job nach? Oder haben Jugendliche tatsächlich einfach verlernt, „hart zu arbeiten“?
Um dem auf den Grund zu gehen, haben wir sowohl mit Vertreter:innen der Agentur für Arbeit, die eng mit den Jugendlichen zusammen arbeiten, als auch mit Betreuungslehrkräften der Realschule Neutraubling gesprochen. Im Anschluss haben wir bei den Schüler:innen selbst in einer anonymen Umfrage nachgefragt, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen und sie mit dem Vorwurf konfrontiert, dass junge Menschen angeblich nicht mehr hart arbeiten könnten.
Ausbildung abgelehnt?
Robert Brüderlein von der Agentur für Arbeit beobachtet den Mangel an Auszubildenden mit Sorge. Hervorgerufen wurde dieser seiner Meinung nach dadurch, dass sich bereits seit Jahren deutlich mehr Jugendliche für den Besuch einer weiterführenden Schule entscheiden: „Der Trend zum Abitur ist ungebrochen und hat sich durch die letzten Krisenjahre sogar noch verstärkt“. Dies habe zumeist zur Folge, dass diese ein Studium anstreben und nicht unbedingt eine Berufsausbildung. Doch auch die demografische Entwicklung spiele eine zentrale Rolle: „Junge Menschen stehen einfach nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung, um der Nachfrage der Unternehmen nach Nachwuchskräften gerecht zu werden. Im vergangenen Berufsberatungsjahr von Oktober 2021 bis September 2022 standen 5.749 gemeldeten Ausbildungsstellen nur 3.078 Bewerber zur Verfügung.“ Die verstärkte Neigung zu höheren Abschlüssen in Verbindung mit einer sinkenden Zahl an Jugendlichen seien laut Brüderlein daher die Hauptursachen für die aktuelle Problematik.
Trotzdem entscheiden sich einige Schüler:innen heutzutage nach wie vor bewusst für eine Ausbildung. Den Grund dafür macht Barbara Hanauer, Betreuungslehrerin der Realschule Neutraubling, nach Gesprächen mit ihren Schüler:innen vor allem an einem Punkt fest: „Weil sie die Nase voll haben von der Schule, sie möchten eigenständig arbeiten, das ist deren Hauptbegründung“. Tatsächlich erklären mehrere Schüler:innen in der anonymen Umfrage, dass sie eine Ausbildung machen möchten, um nicht länger auf die Schule gehen zu müssen. Manche haben sich aber aufgrund ihrer Interessen bewusst für eine Ausbildung entschieden. Einige davon sehen den Vorteil darin, bereits früher Geld zu verdienen.
Insgesamt ging die Zahl derer, die eine Ausbildung antritt, jedoch zurück. Das bestätigten sowohl die Schülerumfrage als auch die Betreuer:innen aus der Schule und der Agentur für Arbeit. Hanauer schätzt: „Etwa zwei Drittel der Schüler:innen geht auf weiterführende Schulen, während nur etwa ein Drittel wirklich eine Ausbildung macht – das war früher mal genau umgedreht.“ Sie begründet das damit, dass viele sich noch keine Gedanken über ihre berufliche Zukunft gemacht hätten und sich noch nicht verpflichten wollen würden. Zudem vermutet sie, dass vom Elternhaus nicht zwangsweise der Anspruch bestehe, jetzt bereits wissen zu müssen, was man aus seinem „Leben machen möchte“. So würden viele Schüler:innen aus Unentschlossenheit weiterhin auf die Schule gehen. Die Jugendlichen selbst bestätigen diese Sicht im Fragebogen, in dem viele beschreiben, dass es oft einfacher sei, erstmal weiter auf die Schule zu gehen.
Nur mit Studium zum Erfolg?
Die meisten Jugendlichen geben zudem an, dass sie sich von einer weiterführenden Schule bessere Zukunftschancen erhoffen und nach einem Studium mehr Geld verdienen würden. Brüderlein von der Agentur für Arbeit beobachtet auch, dass viele die Verdienstmöglichkeiten nach einer Ausbildung als gering einschätzen und betont, dass dies jedoch oft schlichtweg falsch sei: „Gut ausgebildeten Fachkräften erschließen sich viele Beschäftigungsmöglichkeiten mit sehr guten Karrierechancen.“ Insbesondere wenn es um den Verdienst geht, kommt es zumeist darauf an, in welcher Branche man tätig ist. Zudem können neben Studienabsolvent:innen auch gelernte Fachkräfte mithilfe von Fort- oder Weiterbildungen in ihrem Beruf aufsteigen. Berufsberaterin Alexandra Hein von der Agentur für Arbeit stellt daher heraus, wie wichtig es sei, den Jugendlichen auch die Chancen, die eine Ausbildung mit sich bringt, aufzuzeigen.
Nicht nur die Bezahlung, sondern auch das Ansehen, spielt dabei eine Rolle für die Schüler:innen. „Eine Ausbildung ist unattraktiver geworden. Junge Menschen möchten lieber studieren und mehr Geld verdienen. Zusätzlich sind Akademiker in der Gesellschaft höher angesehen als Menschen mit einer Ausbildung“, findet ein Schüler. Hanauer ist jedoch nicht der Meinung, dass Ausbildungsberufe weniger Prestige genießen und vor allem auch nicht weniger Ansehen genießen sollten. So sage sie ihren Schüler:innen immer, dass diese die Helden des Alltags seien. Eine Umfrage des DBB Beamtenbund und Tarifunion aus dem Jahr 2022 ergab, dass Feuerwehrleute das höchste Ansehen in der Gesellschaft genießen, dicht gefolgt von Krankenpfleger:innen mit 88 Prozent und Ärzt:innen mit 86 Prozent. Neben Richter:innen und Pilot:innen sind einige Ausbildungsberufe wie etwa Altenpfleger:innen und Techniker:innen unter den angesehensten Berufen vertreten. Somit genießen diese aktuell ein höheres Ansehen als etwa ein:e Hochschulprofessor:in, eine Lehrkraft oder ein:e Unternehmer:in.
Patrick Lade, der ebenfalls als Lehrer an der Realschule Neutraubling arbeitet und sich oft über Berufswünsche mit seinen Schüler:innen austauscht, beobachtet trotzdem, dass ein Studienabschluss nach wie vor „gehypt“ werde, „was auch von den Betrieben oft mitverschuldet ist, weil ja selbst für einfache Tätigkeiten heute oft kein Mittelschulabschluss mehr reicht.“ Die Einstellung, dass ein Abschluss, der kein Abitur ist, wenig Ansehen genießt, habe sich in den letzten Jahren leider auch in der Gesellschaft durchgesetzt, erläutert der 37-Jährige.
„Das arme Kind“
Auch eine schlechte Behandlung ist ein Punkt, den die Schüler:innen zum Teil mit einer Ausbildung in Verbindung bringen. So kursiert auch heute noch die Redewendung „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, die impliziert, dass Auszubildende härter arbeiten, niedere Aufgaben erledigen müssen und von Vorgesetzten und Kolleg:innen zum Teil abschätzig behandelt werden. Einige bezeichnen die körperliche Anstrengung als abschreckend, wobei manche erklären, dass sie Angst davor hätten, ihren Körper kaputt zu machen.
Betreuungslehrerin Hanauer arbeitet seit über 25 Jahren an ihrer Schule und hat bereits mehrere Generationen an Schüler:innen erlebt. Sie findet: „Es ist leider immer noch so, dass ein Ausbildungsberuf, wo man sich die Hände schmutzig machen muss und man bei Wind und Wetter draußen ist, der Bequemlichkeit und dem Streaming-verwöhnten Dasein der Jugendlichen entgegenspricht. Sie sind es teilweise vom Elternhaus nicht mehr gewohnt, für etwas zu kämpfen oder auch mal Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen.“ Der Vorwurf, dass die Jugend faul sei, ist jedoch nichts Neues und kommt bereits seit Jahrtausenden in leichter Abwandlung immer wieder hoch. Hanauer habe beobachtet, dass die zwei Corona-Jahre dies verstärkt hätten, weil diese sehr schülerfreundlich gewesen seien, sodass viele gar nicht gelernt hätten, dass man in seinem Leben Leistung bringen oder sich anstrengend müsse, so die Lehrerin und ergänzt: „Es wird zu früh und zu schnell entschuldet, bevor sich jemand wo durchbeißen muss. Da heißt es dann sofort ‚das arme Kind‘.“ Die Frustrationstoleranz sei mittlerweile so gering, dass manche sehr schnell einfach hinschmeißen würden.
Laut einer Statistik über die Vertragsauflösungsquote bei Berufsausbildungen in Deutschland, kann seit 2011 durchaus ein Anstieg verzeichnet werden. Jedoch erreichte dieser 2019 mit 26,9 Prozent eine Spitze, woraufhin die Zahl im Jahr 2020 seit 2015 erstmals wieder zurückging. Im ersten Pandemiejahr zeigten sich die Ausbildungsverläufe stabil, wohingegen etwa die Zahl der Hochschulabsolvent:innen im Jahr 2020 mit minus sechs Prozent deutlich gesunken ist. Das erste Jahr der Corona-Pandemie hat somit die Wahrscheinlichkeit, einen Ausbildungsvertrag vorzeitig aufzulösen, nicht erhöht. Für die Jahre 2021/2022 standen noch keine auswertbaren Daten zur Verfügung.
Haben Jugendliche das Arbeiten verlernt?
Auf die direkte Rückfrage, ob die Lehrkräfte der Meinung seien, dass junge Menschen harte Arbeit verlernt hätten, antwortet Lade, dass er das nicht verallgemeinern möchte: „Es gibt durchaus viele, die sich einsetzen und hart arbeiten. Man kann aber auch den Eindruck gewinnen, dass die Schüler die Erfahrung gemacht haben ,Ich muss gar nicht so viel tun und komm trotzdem durch‘ oder ,Es gibt irgendwo einen entspannten Weg, der mich auch an mein Ziel bringt‘.“
Sabrina Obendorfer, Teamleiterin der Berufsberatung der Agentur für Arbeit, widerspricht der Aussage, dass die Jugendlichen das Arbeiten verlernt hätten. Vielmehr findet sie, dass diese es in den letzten Jahren besonders schwer gehabt hätten: „Wir denken, dass die Corona-Situation für viele Jugendliche in Bezug auf den Übergang von Schule in den Beruf zu sehr schwierigen Rahmenbedingungen geführt hat. Neben dem Verlust des Kontakts zu Gleichaltrigen mit vielfältigen Auswirkungen, unter anderem in Bezug auf soziale Kompetenzen, hat sich hier sicher auch bemerkbar gemacht, dass Schnupperpraktika für ganze Jahrgänge komplett ausgefallen sind oder erschwert waren.“ Schüler:innen hätten so kaum die Möglichkeit gehabt, sich auszutesten und die Anforderungen einer Ausbildung kennenzulernen.
Auch in der Schülerumfrage herrscht Uneinigkeit. Während einige Schüler:innen sich strikt gegen die Aussage aussprechen, dass junge Menschen das Arbeiten verlernt hätten, sagt ein Teil ganz offen, dass sie das durchaus so beobachten. So schreibt einer: „Verlernt ist der falsche Begriff. Lust trifft es eher“ und impliziert damit, dass den Jugendlichen die Motivation dazu fehlt. So schreibt ein Schüler sogar, dass vielen nicht klar sei, dass man im Leben was tun müsse. „Smartphone gucken ist für viele einfacher, als einen Dachstuhl zimmern“, äußert ein Schüler offen Kritik an seiner Generation.
Einer der Befragten hält jedoch entgegen, dass die Situation einfach der Tatsache geschuldet sei, „dass man heutzutage ohne große körperliche Anstrengung viel Geld verdienen kann.“ Ein anderer unterstreicht diese Überlegung und ist der Meinung, „dass Jugendliche sich zur Zeit eher geistiger als körperlicher Arbeit widmen wollen.“
© Kasia Bialasiewicz
Luxusproblem oder Ausbildungsangst?
Hanauer sieht ein weiteres Problem in der Differenz aus Angebot und Nachfrage: „Momentan sucht der Ausbildungsmarkt dringend Leute und komischerweise in dem Moment, wenn der Arbeitsmarkt nicht mehr hart umkämpft ist, ist auch die Notwendigkeit nicht mehr da, sich schnell zu entscheiden. Früher waren gerade in Neutraubling einige große Arbeitgeber, bei denen sich tatsächlich vor allem Jungs frühzeitig beworben haben, um einen sicheren Arbeitsplatz zu bekommen. Vor sechs, sieben Jahren war das noch heiß begehrt.“ Lade denkt auch, dass auf der einen Seite im Moment einfach kein so großer Druck auf die Jugendlichen wirke, sich unbedingt eine Ausbildung sichern zu müssen. Gleichzeitig sieht er es auf der anderen Seite für sehr wahrscheinlich an, dass einige von den zahlreichen Optionen ziemlich überwältigt sind. „Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht und sagen dann vielleicht eher: ‚Dann nehme ich mir noch zwei bis drei Jahre Zeit und geh‘ auf die FOS und entscheide mich dann‘.“ Diese Wahl wird laut Lade bereits in der neunten Klasse getroffen, wodurch es durchaus nachvollziehbar ist, dass die jungen Menschen, die zu diesem Zeitpunkt oft erst 14 Jahre alt sind, Schwierigkeiten haben, diese wichtige Entscheidung zu treffen.
Hanauer betrachtet die breit gefächerten Möglichkeiten des Aufstiegs und des Umstiegs jedoch viel eher als etwas, das den jungen Menschen Sicherheit gibt: „Wenn die Jugendlichen etwas nicht machen möchten, haben sie trotzdem noch Plan B oder Plan C und haben immer auch die Alternative, sich schulisch weiterzubilden. Da ist die Frustration von wegen ‚Ich lerne jetzt Schreiner und bin mein Leben lang mit nur drei Fingern gesegnet‘, viel geringer. Die Jugendlichen sind nämlich durchaus sehr clever und wissen ganz genau, welche Optionen ihnen offen stehen.“
Lade ist jedoch der Meinung, dass die Berufswahl eine große Entscheidung und daher durchaus mit Ängsten und Bedenken verbunden ist. Obwohl viele Schüler:innen angeben, dass sie keine Ängste bezüglich der Berufswahl hätten, äußerten einige durchaus die Befürchtung, dass sie eine falsche Entscheidung treffen könnten, ihnen der Beruf dann nicht gefallen oder sie sich im Betrieb unwohl fühlen würden. Viele denken, dass sie für immer in dem Beruf feststecken, den sie einmal gelernt haben und lassen dabei außer Acht, dass sie sich auch später noch einmal umorientieren können, sei es dann durch eine weiterführende Schule oder den Um- oder Aufstieg in einen anderen Bereich. Nur einzelne äußerten die Angst, nichts zu finden.
Berufsbetreuerin Obendorfer betont in diesem Zusammenhang, wie wichtig es ihr sei, den Jugendlichen während ihres Berufswahlprozesses ihre Fähigkeiten und Interessen bewusst zu machen. Denn auch sie beobachte, dass die Berufswahl durchaus mit unterschiedlichen Ängsten verbunden sein kann: „Einige fürchten, den Anforderungen des Berufes nicht gerecht zu werden. Andere können sich nicht für einen Beruf entscheiden, eventuell auch, weil verschiedene Erwartungen an sie herangetragen werden, oder sie meinen, bestimmten Erwartungen gerecht werden zu müssen.“ Sie beschreibt, dass im Rahmen des Berufswahlprozesses der Einfluss der Familie, insbesondere der Eltern, eine große Rolle spiele: „Wenn beispielsweise Familien, die das Ausbildungssystem nicht hinreichend kennen, ein Studium als unabdingbar sehen, kann das enorme Auswirkungen auf die Berufswahl des Kindes haben.“ Daher sei es aus Sicht der Berufsberatung unabdingbar, die Eltern durch gemeinsame Beratungsgespräche in den Berufswahlprozess ihrer Kinder einzubeziehen.
Was denken die Nachbarn?
Auch Hanauer schätzt den Einfluss der Eltern als hoch ein, was folglich nicht unbedingt pro Ausbildung ausfalle, von den Schüler:innen selbst werde dieser Einfluss jedoch gar nicht so wahrgenommen: „Diese gehen vor allem in die Schule, um ihre Freunde zu treffen. Der Unterrichtsstoff ist dabei höchstens zweitranging, da machen wir uns gar nichts vor.“ Auf die Rückfrage, ob Eltern ihren eignen Kindern bewusst von einer Ausbildung abraten, antwortet die 58-Jährige: „Abraten würde ich gar nicht sagen, sondern sie fragen eher im Sinne des Wohles des Kindes: ,Was möchtest du machen?‘ anstatt auch mal zu sagen ,Pass mal auf, probier‘ jetzt mal die Ausbildung aus und dann machst du das jetzt mal zwei oder drei Jahre und dann kannst du immer noch weiter machen‘. Bei den Eltern habe ich manchmal den Verdacht, dass im Fokus steht, was das soziale Umfeld denkt.“ Die Einstellung der Eltern beruhe eher auf der Erwartung des sozialen Standards. „Es ist nach wie vor so – das weiß ich als Beratungslehrkraft – dass viele Eltern einfach das Gymnasium als Non-Plus-Ultra sehen oder auch die Möglichkeit, nach der Realschule auf die FOS zu gehen, um eine möglichst hohe schulische Ausbildung zu haben“, erläutert Hanauer.
Obwohl sich die Jugendlichen dem gesellschaftlichen Druck durchaus bewusst sind, scheinen viele den Einfluss ihrer Eltern nicht oder nicht bewusst wahrzunehmen. Einige der Schüler:innen beschreiben zwar, dass die Eltern durchaus eine Rolle spielen würden, ihre eigene Meinung jedoch im Vordergrund stünde. Einer erläutert: „In erster Linie will ich persönlich zufrieden sein mit meinem Beruf. Ich möchte aber auch, dass meine Eltern sehen, dass es ein vernünftiger Beruf ist mit guten Zukunftsperspektiven.“ Ein anderer stellt fest: „Meine Eltern unterstützen mich in meiner Entwicklung und haben deshalb nicht wirklich ‚Erwartungen‘.“ Ganz offen gesteht aber auch einer der Befragten: „Ich will meine Eltern nicht enttäuschen“, ein anderer wünscht sich, dass seine Eltern „stolz sein können“.
Während die Beratungskräfte davon ausgehen, dass Freunde durchaus eine Rolle spielen, wenn auch eine untergeordnete, widersprachen die Schüler:innen einem Einfluss der Freunde auf ihre Berufs- oder Schulwahl. Hanauer ist insgesamt nicht der Meinung, dass einzelne Faktoren wie der Einfluss von Eltern oder Freunden ausschlaggebend dafür sind, dass Jugendliche seltener eine Ausbildung absolvieren, sondern es sich hier um ein multifaktorielles Zusammenspiel handle: „Das ist die Erziehung im Elternhaus, das sind die Vorbilder, das sind die zwei Corona-Jahre und die jahrelange Politik, dass man unbedingt Gymnasium haben muss, um erfolgreich im Leben zu sein.“
Spannung, Abenteuer, flexible Arbeitszeiten – und Geld
Neben einer Abneigung gegen eine Ausbildung aufgrund von Druck oder einer Angst vor falschen Entscheidungen steigen jedoch auch die Forderungen der Schüler:innen an einen guten Beruf. Denn manche wissen bereits ganz genau, was sie sich von ihrem zukünftigen Betrieb wünschen.
So machen sich viele bereits Gedanken zu Themen wie flexiblen Arbeitszeiten, Work-Life-Balance und einer guten Atmosphäre am Arbeitsplatz. Einige erhoffen sich viel Umgang mit Menschen sowie gute Weiterbildungs- und Aufstiegschancen. Mehrere Schüler:innen äußern auch, dass sie gerne viel unterwegs sein möchten. Das bestätigt auch Hanauer und erzählt, dass sich junge Menschen eine erhöhte Flexibilität wünschen würden, was etwa Urlaube anbelangt oder auch die Möglichkeit, innerhalb eines Betriebs zu wechseln. „Ich weiß zum Beispiel, dass manche Schüler zu [bestimmten Firmen] gehen, weil sie das Auslandsprogramm ganz attraktiv finden – ich glaube, diese Spannung und Abenteuer sind ihnen im Beruf ganz wichtig.“ So äußern auch in der Umfrage einige, dass sie sich vor Monotonie fürchten und betonen, dass sie durchaus gefordert werden möchten. Hanauer vermutet, dass viele Jugendliche von einer Ausbildung abgeschreckt sind, da sie denken, dass man nach einer Ausbildung nur am Fließband steht.
© panophotograph
Work-Life-Balance statt Stunden im Büro
Auch Social Media hat einen Einfluss auf die Erwartungen der Schüler:innen. Neben größerer Freiheit und Arbeit „von überall aus“, erhoffen sich manche Jugendliche jedoch schlichtweg angenehme Arbeitszeiten und einen „chilligen“ Beruf. Ein Schüler fasst die Erwartungen mit der Beschreibung: „ein hohes Gehalt, wenig Stunden, einen modernen Arbeitsplatz und nette Kollegen“ zusammen. Dass die Neigung in diese Richtung geht, dass weniger und flexibler gearbeitet wird, bestätigt auch Lade und erläutert: „Das Bild von Arbeit in den Sozialen Medien spielt hier natürlich eine Rolle. Zum einen wollen die Schüler Geld verdienen, das steht schon noch ganz oben mit dran, aber was noch mehr kommt, ist die Work-Life-Balance und dass ich nicht unbedingt Vollzeit arbeiten muss.
Tatsächlich sprechen Jugendliche sich heutzutage aufgrund des zunehmenden Leistungsdrucks immer öfter für eine geringere Arbeitszeit aus, wobei die Wichtigkeit der Arbeit zu Gunsten der Freizeit in den Hintergrund tritt. Arbeit stellt also lediglich eine Notwendigkeit dar, um seine Lebensunterhalt zu bestreiten und symbolisiert für viele nicht mehr den Mittelpunkt des Lebens.
Dass auch der Verdienst nach wie vor eine große Rolle spielt, bestätigte sich auch dadurch, dass fast alle Befragten „eine gute Bezahlung“ als Priorität angeben. Sicherheit und eine Übernahmegarantie spielen für einige ebenfalls eine Rolle. So kann insgesamt beobachtet werden, dass sich die jungen Menschen auf der einen Seite nach Spannung und Selbstverwirklichung sehnen und danach streben, nicht den ganzen Tag am Schreibtisch zu sitzen. Gleichzeitig bleibt aber der Wunsch nach einer guten Bezahlung und der damit verbundenen Sicherheit. Länder wie die Niederlande, Dänemark oder Norwegen machen es vor: Mit Wochenarbeitszeiten etwa 30 Stunden gehören sie zu den Top-Ten-Ländern mit den kürzesten Wochenarbeitszeiten. Ob dies in absehbarer Zeit auch in Deutschland erfolgreich eingeführt wird, bleibt abzuwarten.
Keine Praxis, keine Ahnung
Doch auch wenn Arbeitgeber:innen auf diesen Zug aufspringen und den Wünschen der Schüler:innen entgegenkommen würden, bleibt immer noch das Problem, dass die Jugendlichen nur schwer von diesen Möglichkeiten erfahren. So assoziieren diese oft ein festes Bild mit einer Ausbildung, wobei sich ihnen gleichzeitig zu wenige Chancen bieten, wirklich Einblick zu erlangen und sich vom Gegenteil zu überzeugen. Ein Schüler kritisiert in diesem Zusammenhang konkret, dass es zu wenig Praxis in der Schule gebe. Auch Hauner ist überzeugt: „Dass viele Angst haben, nach einer Ausbildung einer monotonen Arbeit nachzugehen, beruht auf der mangelnden Information über Berufe. Umso mehr Infos kommen, etwa in Form von Kurzfilmen, umso besser.“ Sehr dankbar seien sie für ihre Berufsberaterin von der Agentur für Arbeit, die sich um jede:n individuell intensiv kümmere. Es brauche jedoch noch mehr Zusammenarbeit mit den Betrieben selbst. „Das ist nach Lehrplan zum Beispiel in den Mittelschulen ganz anders geregelt als in den Realschulen. Diese haben differenziertere Pflichtpraktika, die auch in der Schulzeit stattfinden. Die Praktika in den Realschulen finden außerhalb der Schulzeit und freiwillig statt“, erläutert sie. „Besonders während Corona gab es kaum Berufspraktika. Dabei ist ein Firmenpraktikum ganz oft ein Einstieg in eine Firma“, ergänzt Robert Brüderlein und hebt hervor, dass eine Zeit lang auch die Berufsberater:innen die Schulen nicht besuchen konnten. Dadurch habe viel Berufsorientierung nicht stattgefunden.
Lade betont, dass die Realschulen mit den Schüler:innen regelmäßig auf die Berufsmessen gehen. „Die Unternehmen kommen auch zu uns ins Haus und stellen ihre Ausbildungsbetriebe und -berufe vor.“ Dass dies sehr gute Gelegenheiten für Arbeitgeber:innen seien, sich bei den Jugendlichen zu präsentieren und Interesse an einer Ausbildung zu wecken, bestätigt auch Hein. „Nach den Corona-Einschränkungen finden Messen wieder frei zugänglich statt, so auch die zentrale Berufsinformationsmesse am 11. Mai 2023 in der Donauarena in Regensburg.“ Brüderlein vermutet, dass auch der fehlende direkte Kontakt auf Berufsmessen und die eingeschränkte Möglichkeit von Praktika den Auszubildendenmangel befeuert haben. Betrieben, die auf der Suche nach guten Mitarbeiter:innen sind, rät er daher, sich auf Berufsorientierungsmessen zu präsentieren: „Hier werden erste persönliche Kontakte geknüpft und nicht selten entsteht daraus Interesse der Jugendlichen an einem Praktikum. Dies ist oft der erste Schritt hin zur Entscheidung für eine Berufsausbildung.“
Besteht Hoffnung?
Scheinbar hat die Ausbildung einen Imageschaden erlitten. Dieser kann jedoch behoben werden, indem die Jugendlichen mehr Einblick in die Berufe und ihre Zukunftsperspektiven erhalten. Denn junge Leute sind nicht unbedingt allgemein fauler geworden, sondern wissen oft schlichtweg zu wenig über Ausbildungsberufe. Zudem haben diese oft bereits genaue Vorstellungen, was sie von einem guten Betrieb erwarten. Ziel ist es daher, auf deren Benefits und Stärken aufmerksam zu machen. Auf Berufsmessen – die sowohl von der Agentur für Arbeit, aber auch von anderen Ausrichtern wie Mittel-, Realschulen und Gymnasien organisiert werden – und Infoabenden an Schulen können die Jugendlichen einen ersten Eindruck von den Betrieben gewinnen. Hier erklären häufig die Azubis selbst vor Ort ihre Arbeitsfelder, um den Schüler:innen einen Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen. Darüber hinaus ist es von zentraler Bedeutung, dass den jungen Menschen in Form von Praktika die Chance gegeben wird, den Beruf wirklich kennenzulernen. Zu diesem Zwecke sprechen sich viele Lehrkräfte dafür aus, in allen Schulformen verstärkt Pflichtpraktika einzuführen, die innerhalb der Schulzeiten stattfinden. Diese ermöglichen wiederum auch den Betrieben, sich einen Eindruck von dem Jugendlichen zu verschaffen.
Neben dem fehlenden Einblick in die Ausbildungsberufe hält Mittel- als auch Realschüler:innen auch der aktuelle Akademisierungstrend davon ab, nach ihrem Schulabschluss gleich eine Ausbildung zu beginnen. Der Grund dafür ist, dass viele denken, nur mit Abitur eine gute Zukunftsperspektive zu haben. So war in den vergangenen Jahren tatsächlich ein Anstieg an Abiturient:innen, die eine Ausbildung machen, zu beobachten. Während die Gesamtzahl der Auszubildenden also zurückgeht, beginnt mittlerweile fast jede:r zweite Abiturient:in eine Lehre. Anzuraten wäre daher auch den Betrieben, die Qualifikation anhand eines Praktikums anstatt eines Schulabschlusses zu bewerten. Auch von Seiten der Eltern wäre es wünschenswert, den omnipräsenten Akademisierungswahn zu beenden, wobei Eltern sich in erster Linie fragen sollten: ‚Was ist das Beste für mein Kind?‘ und nicht ‚Was denken die Nachbarn oder was ist gesellschaftlich angesehen?‘. In diesem Falle bleibt durchaus zu hoffen, dass sich künftig – unabhängig von der Schulbildung – wieder mehr junge Menschen für eine Ausbildung entscheiden.
Marina Triebswetter | filterVERLAG