Er ist der neue „Klima- und Umweltanwalt“ der Regensburger Stadtspitze – Ludwig Artinger. Wir haben im Regensburger Rathaus vorbeigeschaut und uns mit dem dritten Bürgermeister und Vater von drei Kindern über seine Zeit als Richter, einen Schwank aus seinem Leben und sein neues Amt unterhalten.
Herr Artinger, Sie meinten einmal, Ihre Freunde und Familie seien von Ihrer Pingeligkeit genervt. Bei welchen Angelegenheiten kommt Ihre übertriebene Genauigkeit zum Vorschein?
Ich bin schon genau, oder wenn man so will auch pingelig. Vielleicht ist das eine Berufskrankheit, wahrscheinlich aber auch eine Charaktereigenschaft. Als Jurist kann man Sachverhalte halt nicht einfach so ungefähr abhandeln. Das nervt dann manche Leute.
Wenn Sie über Schuld und Unschuld gerichtet haben. Welches Gefühl hat diese Machtposition in Ihnen ausgelöst?
Ich war zwar schon mal als beisitzender Richter im Schwurgericht tätig, wo wirklich schwerwiegende Delikte verhandelt worden sind. In den letzten Jahren war ich aber immer als Zivilrichter tätig und der urteilt nicht über Schuld und Unschuld. Da geht’s um Verkehrsunfälle, Miet- oder Nachbarstreitigkeiten, also um einen Interessenausgleich zwischen Privatpersonen. Zurück zu Ihrer Frage: Ich finde nicht, dass das eine Frage von Macht ist, sondern von Verantwortung. Und die spürt man nicht nur, sondern sie belastet auch. Es ist wichtig, dass einem diese Verantwortung in jeder Sekunde bewusst ist. Gerade in großen Prozessen entscheidet man mitunter über Existenzen. Das ist eine große Verantwortung, die man trägt und der man sich bewusst sein und auch gerecht werden muss.
Aktuell erschüttern beispielsweise die Missbrauchsfälle rund um Münster die ganze Republik. Sind Sie als Richter auch mal an Ihre Grenzen gekommen?
Als Staatsanwalt war ich einmal für Sexualstraftaten zuständig. Dazu gehörte auch der sexuelle Missbrauch von Kindern. Ich habe es als besonders belastend empfunden, wenn die Schwächsten der Gesellschaft schonungslos einer solchen Situation ausgesetzt sind. Und dann sind die Täter häufig auch noch Personen aus dem persönlichen Umfeld. Gerade für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes ist es wahnsinnig wichtig, dass es Vertrauen erfährt. Wenn dieses Vertrauen von nahestehenden Personen missbraucht wird, dann ist das ganz, ganz schlimm.
„So wahr mir Gott helfe“ – wie handhaben Sie diese Zusatzformel des Richtereids und warum?
Das ist mir persönlich immer wichtig gewesen. Ich bin kein Mensch, der ständig in die Kirche geht, aber trotzdem ist der Glaube für mich eine Grundfeste meiner Persönlichkeit. Als Kind wollte ich Pfarrer werden, weil meine Oma sehr gläubig war. Ich hatte ihr versprochen, dass ich einmal Pfarrer werde. Als ich aber in einem bestimmten Alter bemerkte, dass es verschiedene Geschlechter gibt, habe ich festgestellt, dass ein Priester-Leben nichts für mich ist (lacht).
Was hat Sie das Richter-Dasein Ihrer Meinung nach am meisten gelehrt?
Nichts ist Schwarz oder Weiß, das Leben findet meist in Zwischentönen statt. Es gibt auch selten diese absoluten Wahrheiten.
Wenn Sie jemand auffordert, einen Schwank aus Ihrem Leben zu erzählen, welche Geschichte erzählen Sie am liebsten?
Vieles, was ich erzähle, hängt mit meinem Vater zusammen. Das ist eigentlich ganz komisch, weil ich nicht einmal ein besonders inniges Verhältnis zu ihm hatte. Aber seitdem er tot ist – das hört sich jetzt vielleicht auch ein wenig verrückt an (lacht) – rede ich gelegentlich mit ihm. Ich denke mir oft: „Das hätte jetzt mein Vater gesagt.“ Und mir fällt spontan eine eher blöde Geschichte ein, aber sie hat mit einer Charaktereigenschaft zu tun, die man heute eher nicht mehr so schätzt: An einem Sonntagmorgen war ich mit meinem Vater unterwegs, uns kam eine Nachbarin entgegen, die ich nicht gegrüßt habe. Da hat mich mein Vater gschimpft und gesagt: „ Des is’ a Nachbarin, de muas ma griassn“ (schmunzelt). Was ich mit dem Grüßen sagen will: Es ist für mich eine Frage des Respekts, der Achtung. Man muss jetzt nicht durch Regensburg laufen und jeden grüßen. Aber die Nachbarschaft oder Menschen, denen man öfter begegnet, grüßt man einfach.
Eigentlich dachte ich eher an etwas Lustiges?
Eine meiner Töchter hatte ihr erstes Radl bekommen, in Rosa natürlich. Im Garten hatten wir eine Scheinakazie mit Stacheln, weshalb die Kinder öfter mal einen Platten gefahren hatten. Eines Tages sagt Sie zu mir: „Papa, richt’s Radl!“ Als ich dann den Schlauch flicken wollte, hatte ich den Mantel nicht mit überprüft, was man aber immer machen sollte. Während ich also den geflickten Schlauch wieder aufpumpe, sehe ich schon, dass aus einem Loch im Mantel von einem Stachel der Akazie der Schlauch herauskommt und immer größer wird. Ich hab das Unheil geahnt, und tatsächlich zerriss es plötzlich mit einem lauten Knall den Reifen. Daraufhin sagte meine Tochter: „Du bist ja gar kein richtiger Richter (lacht)!“ Meine Kinder wussten, dass ich Richter bin und dachten, dass ein Richter eben alles richten kann. Aber da habe ich schmählich versagt.
Was ist Ihre größte Jugendsünde?
Geheimnisse werden natürlich nicht verraten. Das sind die Bubi-Geschichten, die ich meinen Kindern auch erst spät erzählt habe. Aber die Pubertät war für mich, wie auch für meine Eltern eine schwierige Phase. Da habe ich schon das eine oder andere Mal über die Stränge geschlagen.
Warum haben Sie eigentlich Jura studiert?
Das wollte ich schon seit der Oberstufe, nachdem mir klar geworden war, dass eigentlich alle Bereiche des Lebens vom Recht durchdrungen sind. Wenn man sich also im Recht auskennt, ist das ganz hilfreich. Ein anderer Ansatz war mein Wunsch, Menschen zu helfen. Ich habe zum Beispiel auch Zivildienst in einem Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen geleistet. Wenn man Jura studiert, kann man den Menschen gut zu ihrem Recht verhelfen.
Heute sind Sie als dritter Bürgermeister quasi Regensburgs neuer Natur- und Klimaanwalt. Wie hoch schätzen Sie Ihre Chancen ein, wirklich etwas voranzubringen? Und an welche Bedingungen ist der Erfolg Ihrer Meinung nach geknüpft?
Im Augenblick ist das Umweltthema durch Corona etwas in den Hintergrund getreten: Die Mülleimer quellen über, das ist der Wahnsinn. Wir stellen zwar zusätzliche Behälter auf, das kann aber auf Dauer nicht die Lösung sein. Vorher hatten wir jede Woche eine Demo für die Umwelt, jetzt ist dieses Thema von Corona überlagert. Trotzdem sind die Probleme natürlich da und es ist nicht fünf vor zwölf, sondern schon ganz kurz davor. Um wirklich etwas voranzubringen, muss man die Aspekte, Umwelt, Soziales und Wirtschaft unter einen Hut bringen. Nur wenn es uns gelingt, dieses Spannungsverhältnis aufzulösen, wird der Klimaschutz eine Erfolgsgeschichte. In der Wirtschaft ist mittlerweile das Bewusstsein für ein Umsteuern vorhanden. Die Dekarbonisierung wird neue Chancen mit sich bringen. Es werden ganz neue, andere Arbeitsplätze entstehen.
Welche Umweltentscheidungen im Regensburg der Vergangenheit bedauern Sie persönlich?
Man hätte nicht nur in Regensburg, sondern auf der ganzen Welt, dem Umwelt- und Klimaschutz viel früher und viel mehr Beachtung schenken müssen. Jetzt aber haben wir als Stadt, nicht zuletzt dank „ fridays for future“, mehr als zuvor ein Bewusstsein dafür, welche Auswirkungen Entscheidungen auf die Umwelt haben. Man hätte bereits viel früher langfristiger und nachhaltiger denken und entscheiden müssen.
Was hat die Stadt rückblickend für Sie sonst noch verpasst?
Wir hätten in der Ära Schaidinger als Stadt die GWB-Wohnungen aufkaufen müssen. Damals wurden bayernweit mehr als 30.000 Wohnungen billig an einen Investor verscherbelt. Allein in Regensburg wären das zwischen ein- und zweitausend Wohnungen gewesen, bei denen man die Mieten hätte dauerhaft niedrig halten können, ganz abgesehen davon, dass es auch eine gute Investition gewesen wäre.
Sind Sie eher Naturbursche oder Kulturliebhaber?
Eher Naturbursche. Ich halte mich wahnsinnig gern in der Natur auf. Ich fahre leidenschaftlich Mountainbike und Rennrad oder wandere gerne. Da kann ich Kraft tanken und es inspiriert mich.
Sport in der Natur hat für Sie also einen besonderen Stellenwert?
Sport ist ganz wichtig für mich. Wenn ich mich richtig schinde, ist das wie eine geistige Dusche.
Welches bayerische Sprichwort trifft auf Sie am meisten zu?
Leben und leben lassen. Das ist ein guter bayerischer, liberaler Ansatz. Den anderen respektieren und sich selbst nicht so wichtig nehmen. Das ist auch etwas, was ich von meinen Eltern eingeimpft bekommen habe.
Denken Sie, dass Corona in Teilen bereits gezeigt hat, dass diese Werte zu bröckeln beginnen?
Ja, vielleicht. Aber da muss man verschiedene Phasen unterscheiden. Am Anfang gab es eine ganz breite Akzeptanz gegenüber den Maßnahmen. Irgendwann war der Geist dann aus der Flasche. Man muss sich nur an den Plätzen umsehen: Wir steuern auf eine Situation zu, die meines Erachtens nicht mehr gedeckelt werden kann, wo sich der Freiheitsdrang bahnbricht. Und ich muss sagen: Es ist der Zeitpunkt erreicht, an dem ich hoffe, dass keine zweite Welle kommt, weil ich nicht weiß, ob man die Menschen in der Breite noch mal hinter sich scharen kann.
Was hat Ihnen in der Zeit des Lockdowns am meisten gefehlt?
Ganz klar die Sozialkontakte, Familie und Freunde zu treffen, in ein Café auf einen Espresso oder in ein Restaurant zum Essen zu gehen.
Hatte der Lockdown für Sie persönlich irgendetwas Gutes? Haben Sie etwas Neues über sich gelernt?
Ich glaube, die Besinnung auf das Wichtige und Wesentliche hat uns allen ganz gutgetan. Ich glaube aber auch, dass Videokonferenzen oder Homeoffice künftig mehr stattfinden werden.
Willibald J. Ferstl - RNRed