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Wie ein hauchdünnes Seil, eine Balance zwischen Pflicht und Gewissen. Strafverteidiger, die einen potenziellen Mörder oder Sexualstraftäter vertreten, brauchen eine starke Persönlichkeit. Rückhalt. Und das Wichtigste: die nötige Distanz. Doch wie kann ein Anwalt sein moralisches Verständnis komplett ausschalten und seinen Mandanten mit vollem Einsatz unterstützen?

Eine Akte mit grausamen Bildern liegt vor Iris Nickl. Fotos von einem sexuellen Übergriff, die Details zeigen, bei denen andere lieber die Augen abwenden würden. Doch die 53-Jährige studiert die Fakten ganz genau, grübelt über die Zusammenhänge und kennt dabei keine Scheu. "Solche Fotos sind schlimm, sicher. Aber es gibt eben Aufgaben, die machen mehr Spaß, andere weniger ? wie in jedem Beruf", erklärt Nickl. Die Zeit härtet ab. Man muss das Gewissen ausschalten, sich mit Kopf und Herz nur auf den Fall konzentrieren. "Ich habe für mich entschieden, dass ich das kann, ohne dass es mich wirklich tief im Inneren verletzt." Mit dem Gang aus dem Büro lässt Nickl den Arbeitsalltag hinter sich. Tür zu, Kopf aus. Zumindest meistens. "Ich bin so gefestigt, dass mir die Erlebnisse nicht lange nachhängen."

Schon seit 20 Jahren beschäftigt sie sich in ihrem Beruf täglich mit Verbrechern und Straftaten. "Man braucht eine gewisse Distanz, sowohl zu den Mandanten, als auch zur Materie." Nach einem halben Jahr bekam Nickl als Neueinsteigerin schon den ersten kniffligen Fall zugeteilt: Vergewaltigung. Pflichtverteidigung. Ein Auskommen fast unmöglich. Wenn der richterliche Beschluss kommt, muss man antreten. "Die Pflichtverteidigungen werden meistens den Jüngsten in dieser Branche verordnet." Warum? Das weiß keiner so genau. Vielleicht, weil die Richter auf weniger Widerstand hoffen. Vielleicht, um so früh wie möglich zu merken, dass dieser Beruf alles andere als ein Zuckerschlecken ist. Trotzdem: Als Anwältin für Straf-, Miet- und Pachtrecht hat Nickl ihren Traumberuf gefunden. "Mir war damals schon klar, dass ich das ohne Gewissens-Probleme meistern kann."

Nickl ist eine selbstbewusste Frau, sie steht mitten im Leben. Herzlich, offen, zuvorkommend. Das merken auch die Mandanten. Die Meisten verhalten sich höflich und freundlich, mit Einigen ist der Umgang schwieriger ? "das liegt aber an der Erziehung." Erfährt man als Strafverteidigerin im Gespräch die ganze Wahrheit? "Meistens schon! Ich brauche schließlich auch so viele Details wie möglich, um meinen Mandanten bestmöglich verteidigen zu können." Ehrlichkeit spielt eine wichtige Rolle. Wer versucht, Lügen aufzutischen, hält das nicht lange durch. Mit ihrer jahrelangen Erfahrung durchschaut Nickl Ungereimtheiten sofort. "Zu beschönigen versucht jeder, aber das ist auch okay."

Das Verhältnis zwischen Verteidigerin und Mandant ist eng und überraschenderweise gut. "Oft sind wir die einzige Bezugsperson zu unseren Klienten, der einzige Kontakt zur Außenwelt." Gesteht der Angeklagte Nickl die Tat, dann darf sie trotzdem Freispruch fordern. "Ich darf alles tun, was sich für meinen Mandanten günstig auswirkt." Eine schmale Gratwanderung zwischen Pflicht und Gewissen. Der Pflicht, ihren ganzen Ehrgeiz, Power und Können in den Prozess zu stecken. Der Pflicht, nur ein Ziel zu verfolgen: Den Angeklagten nicht hinter Gittern zu sehen, sondern Freispruch durchzusetzten. Egal, was er verbrochen, gegen welche Gesetze er verstoßen hat und wie unmoralisch diese Tat gewesen sein mag. Das Gewissen schaltet Nickl in den Off-Modus, die Gedanken kreisen nur noch um den Prozess. "Das ist mein Job und den will ich gut machen." Aber klappt das wirklich? "Definitiv und ganz ehrlich: Ja!" Sie überlegt kurz: "Sonst wäre ich in diesem Beruf falsch."

Es kommt auf die richtige Denkweise an. Alles dreht sich darum, wie man dem Mandanten am Besten helfen kann ohne Gesetze zu verbiegen. "Der Prozess muss staatlich ablaufen und die Rechte für den Mandanten gewähren." Schleicht sich da nie der Gedanke ein ? wegen mir ist ein Verbrecher freigekommen, obwohl ich genau weiß, er ist schuldig? "Diesen Konflikt gibt's in meinem Beruf nicht. Ich bin mit vollem Herz und voller Leidenschaft dabei." Und zwar in dem Sinne, den Job gut machen zu wollen. Ist die Beweislage eindeutig, wird der Angeklagte sowieso verurteilt. Außer bessere Gefängnis-Bedingungen kann Nickl als Strafverteidigerin in solchen Fällen wenig ausrichten. "Ich kann keine Wunder vollbringen, der Sinn liegt in der Unterstützung." Dieses Wissen hilft und verhindert Gedanken-Chaos.

Im Laufe der Jahre entwickelt sich eine gewisse Gleichgültigkeit. "Ich habe gelernt, Emotionen zu unterdrücken und die Arbeit an mir abprallen zu lassen." Nur so lässt sich die Mission als Strafverteidigerin erfolgreich erfüllen: Dem Mandanten zu helfen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu erschüttern. "Man braucht eine stabile Persönlichkeit. Und eine gesunde Distanz."

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Foto: bigstock/ liveostockimages

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