Wir werden immer empfindlicher und sensibler. Kleinigkeiten werden überbewertet, Eltern sind bei der Erziehung Ihrer Kinder überbesorgt. Das wirkt sich auf unsere gesamte Entwicklung aus, die Erfahrungen ziehen sich bis in das Erwachsenenalter. Verweichlichen die Generationen immer mehr? Die alles entscheidende Frage ist letztendlich: Wie soll man später im Arbeitsleben seinem Chef taffe Projekte präsentieren oder im privaten Umfeld schlagfertig auftreten, wenn wir schon im jüngsten Alter wegen der kleinsten Schürfwunde übertrieben bemitleidet werden?
Früher war alles besser, diesen Spruch bekommen wir oft genug zu hören. Aber war es das wirklich? Zumindest wurde früher noch gekämpft. Im Krieg. Um das blanke Überleben. Frauen trauerten um ihre Männer. Mussten ihre Kinder alleine groß ziehen, bangten um Nahrung und um die Zukunft ihrer Familie. Die Kinder aus dieser Zeit sind abgehärtet. Wissen, was das Leben bringen kann. Kennen die negativen Seiten, aber auch die positiven Wendungen. Eventuell. Welche Gefahren, Schwierigkeiten und Herausforderungen auf sie zukommen können. Sie kommen zurecht, irgendwie. Sie sind zufrieden mit dem, was sie haben - weil sie wissen, wie schlimm es uns im Leben erwischen kann. Doch im Laufe der Zeit haben sich die Probleme verlagert.
Heutzutage weinen die Kleinen, wenn Mama ihnen Käse anstatt Nutella auf das Butterbrot schmiert. Am nächsten Tag wird der Mama dieser Fehler natürlich nicht mehr passieren. Also am besten gleich zum nächsten Supermarkt fahren und Nutella kaufen. So schnell wie möglich. Man will die Wünsche der Kinder ja schließlich erfüllen. Will, dass es ihnen gut geht. Rundum. Verweichlicht unsere Gesellschaft durch die Überbesorgtheit der Eltern? Hunderte von Ratgebern wurden schon veröffentlicht, alle für besorgte Eltern. Für Eltern, die alles richtig machen wollen und um das Wohlergehen der Kleinen bemüht sind.
Die Titel, die man hier findet, lassen den normalen Menschenverstand, der sich nicht gerade in dem überbesorgten Eltern-Modus befindet, stocken. Ein besonders ernst zu nehmendes Problem behandelt zum Beispiel folgender Ratgeber: „Oje, ich wachse!“. Tatsächlich? Mein Kind wächst? Oh nein, was jetzt?! Am besten gleich den Arzt aufsuchen! Oder dieser Ratgeber: „Die besten Breie für Ihr Baby“, man muss schließlich wissen: Brei ist nicht gleich Brei. Oder trinken Sie immer den gleichen Wein zum Abendessen? Nein! Sicher besorgen Sie sich auch einen Ratgeber über die verschiedenen Weinsorten bevor Sie einen edlen Tropfen ausprobieren! Man weiß ja schließlich nie, welcher Inhalt sich in so einer Weinflasche befindet. Besonders hilfreich ist sicher auch dieses Buch: „Baby-Betriebsanleitung: Inbetriebnahme, Wartung und Instandhaltung“. Hoffentlich ist hier Schritt für Schritt beschrieben, wie ein Baby gewartet und instand gehalten wird! Wie die Menschen das wohl vor tausenden von Jahren ohne Bücher geschafft haben, ein Kind zu erziehen? Unvorstellbar und quasi sowieso unmöglich. Sonst wären die meterlangen und hohen Bücherregale in diversen Büchergeschäften ja umsonst. Kann nicht sein.
Spätestens, wenn die Kleinen dann aus dem wohlbehüteten Kindergarten in die gefährliche Grundschule wechseln, müssen sie im Besitz eines Handys sein. Kein Handy bedeutet keine Erreichbarkeit bedeutet Gefahr bedeutet den Untergang. Also liebe Eltern, schenkt euren Kindern zur Einschulung unbedingt ein Handy. Denn so ein Smartphone (es sollte auf jeden Fall die neueste Technik sein, sonst wird das Kind noch aufgezogen und das wäre ein einschneidendes Erlebnis, das man ihm nicht zumuten kann) kann auch optimal dafür genutzt werden, den Schulfreunden eine WhatsApp-Nachricht zu schicken. „Wer hat Zeit zum Spielen?“ Sollte keiner antworten, dann sparen sich die Kinder zum Glück den sinnfreien Weg durch die Ortschaft. Sie könnten sich schließlich die Designer-Schuhe schmutzig machen. Kaum vorstellbar, dass Kinder früher stundenlang von Haus zu Haus gelaufen sind, um die Freunde zum Spielen zusammen zu trommeln.
Eine wichtige Rolle spielt sicherlich auch unsere Weniger-Kinder-Gesellschaft. Während früher sechs oder mehr Kinder völlig normal waren, gibt es heute viel mehr Familien mit nur einem oder zwei Kindern. Klar, dass die Eltern ihnen ihre volle Aufmerksamkeit schenken. Automatisch werden sie schneller verzogen, wohnen länger zuhause in behüteter Umgebung und steigen erst später auf den Zug der Selbstständigkeit auf. Abitur und dann? Studium. Aber was? Man ist viel unentschlossener, die Ausbildung zieht sich, nicht selten schließt man heute sein Studium erst mit Ende 20 ab. Eine weitere Entwicklung, die sich im Gegensatz zu früher, als man mit 15 schon zum Arbeiten anfing, geändert hat. Und damit nicht genug, denn das Verhätscheln zieht sich bis in das Arbeitsleben, in dem es in Firmen Fitnessangebote und Arbeitsplatzoptimierungen gibt. Eine notwendige und zeitgemäße Umstrukturierung oder alles Auswirkungen der Verweichlichung unserer Menschheit? Diese Frage lässt sich wohl nur individuell beantworten. Eine Patentlösung gibt es nicht.
Selbstverständlich ist uns bewusst, dass es alle nur gut meinen. Die Eltern ihre Kinder nur beschützen wollen. Doch ist es in diesem Ausmaß wirklich notwendig? Essen ohne Zusatzstoffe, Teddys aus organischer Baumwolle, der Arzt bei dem kleinsten Husten… Durch die Überbesorgtheit fällt es unseren Kindern schwer, die Welt zu erkunden und kennen zu lernen. Oder wie soll jemand, der nie einen Fehler gemacht hat, in Zukunft eine Firma leiten oder gar unser Land regieren? Wir haben alle unsere Erfahrungen gemacht, aus Fehlern gelernt, sind auf die Nase gefallen, wieder aufgestanden und: Wir haben es alle überlebt.
Verwöhnkultur: Eine „Schattenseite unserer Wohlstandsgesellschaft“.
Erzieher und Pressesprecher Marcus Weigl von der Caritas erklärt aus Expertensicht, ob tatsächlich ein solcher Trend festzustellen ist.
Ist bei der Arbeit mit Kindern festzustellen, dass sie stiefmütterlicher behandelt werden, als in anderen Generationen?
· So generell kann man das nicht behaupten. Ich mag solche Pauschal(vor)urteile nicht so gerne. Die Prägung in der Kindheit ist bekanntermaßen entscheidend dafür, wie stark und selbstbewusst ein Mensch wird. Deshalb ist in guten Kitas die Förderung von Resilienz, von psychischer Widerstandsfähigkeit, ebenso wichtig wie der Aufbau physischer Widerstandsfähigkeit. Eine gute Pädagogik findet dabei die richtige Balance zwischen der Förderung individueller Fähigkeiten und der Vorgabe von Normen und Regeln. Eine überzogene Individualisierung birgt die Gefahr der Verweichlichung, insbesondere wenn die Kleinen sehr verwöhnt werden.
Welche Rolle spielen die heutigen Medien dabei?
· Die modernen Medien spielen eine zentrale Rolle, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. So kann das Internet mit seinen sozialen Medien vor Vereinsamung und Ausgrenzung schützen – besser als das alte Telefon und der Fernseher. Aber es kann auch schnell zum Lebensmittelpunkt, zur Sucht werden. Die behutsame Hinführung an die modernen Medien ist deshalb eine wichtige pädagogische Aufgabe. Dies gilt für Erziehungsinstitutionen wie Kindergärten und vor allem Schulen natürlich ebenso wie für die Eltern, die auch hier eine wichtige Vorbildfunktion haben.
Gibt es Möglichkeiten, die Kinder doch noch etwas zu „stärken“?
· Durch viel Spielen an der frischen Luft, auch freies, ungezwungenes Spielen, entwickelt sich ein starker, gesunder Körper. Für eine gesunde Psyche ist es ganz entscheidend, dass ein Kind Bindung, Verlässlichkeit, Zutrauen und Wertschätzung erfährt. Und Geduld. Das alles gilt natürlich auch in der Schule und besonders bei schlechten Noten.
Seit wann spitzt sich die Lage zu?
· Die „Verwöhnkultur“ ist wohl eine Schattenseite unserer Wohlstandsgesellschaft. Besondere Achtsamkeit vor allem ist geboten, wenn die modernen Medien unser Leben und das unserer Kinder zu sehr und zu lange in Besitz nehmen. Von einer Zuspitzung der Lage würde ich aber nicht sprechen. Dafür habe ich schon zu viele starke, selbstbewusste und gleichzeitig sozial kompetente Kinder gesehen.
Gibt es etwas, was die Eltern besser machen können?
· Alle Eltern sollten hinterfragen, welche Perspektive sie bei der Erziehung einnehmen. Nicht die Erwartungen der Eltern sollten maßgeblich sein, sondern die Befähigung ihrer Kinder zu einem eigenständigen Leben in ihrem sozialen Umfeld.
Sind Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen festzustellen?
· Mädchen gelten im Kindesalter als reslilienter, ab der Pubertät als anfälliger. Für die Jungs ist schon früh die soziale Unterstützung in ihrem Umfeld besonders wichtig.
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Foto: bigstock.com/Angela_Waye
Verweichlicht die Menschheit?
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