Kein Reichstag, keine Altstadt, keine Touristen… Kein Welterbe! Das Gesicht Regensburgs hätte dramatisch anders aussehen können, als wir es heute kennen, denn kleine Entscheidungen aus der älteren und jüngeren Vergangenheit hatten einen unheimlichen großen Einfluss auf unsere Domstadt. Mit der Frage „Was wäre, wenn…?“ beschäftigt sich Dr. Bastian Vergnon. Anhand zweier Szenarien zeigt der studierte Historiker, wie fundierte Forschung spannende und absurde Abzweigungen in der Geschichte freilegen kann. Im Artikel gewährt uns der Historiker einen Einblick in seine spannende Forschung.
Regensburg war und ist eine geschichtsträchtige Stadt und die Oberpfalz Schauplatz diverser wichtiger Ereignisse der bayerischen Historie. Das muss man weder ihren Einwohnern noch den Touristen erklären, die jedes Jahr in die zum UNESCO Welterbe ernannten Stadtteile strömen. Doch in den letzten 800 Jahren fand sich die Hauptstadt der Oberpfalz oft am Scheideweg und hätte dementsprechend heute ganz anders aussehen können: So stand Regensburg noch vor wenigen Jahrzehnten davor eine sechsspurige Autobahn durch die Altstadt zu errichten. Wie und warum es zu manchen Entscheidungen kam (oder nicht kam), darüber forschen Experten. Einer von ihnen ist Dr. Bastian Vergnon. Der promovierte Historiker ist zur Stelle, wenn aus der Frage „Was wäre, wenn…“ faktenbasierte Forschung wird. Seit drei Jahren betreibt der Mitarbeiter der OTH Amberg-Weiden privat den „Ankerpunkte Blog“. Benannt ist die Website nach eben jenen Geschehnissen der Geschichte, die unsere Welt nachhaltig verändert hätten, wären sie nur leicht anders passiert.
Regensburg ohne Reichstag? Regensburg ohne Touristen!
Die Oberpfalz hat mit 1,1 Millionen Einwohnern die zweitkleinste Einwohnerzahl der sieben Bezirke des Freistaates Bayern und ist vor allem durch land- und forstwirtschaftliche Flächen geprägt. Regensburg ist die Hauptstadt und die einzige Großstadt mit über 150.000 Einwohnern. Dieser geographische Schwerpunkt zeigt sich auch in der über die Region hinaus bekannten Regionalgeschichte der Oberpfalz. Historisch gesehen ist Regensburg wegen seiner langen Geschichte bekannt, da die Römer es 179 n. Chr. gründeten. Von 1663 bis 1806 war die Stadt Sitz des Immerwährenden Reichstags des Heiligen Römischen Reiches, der institutionalisierten Ständeversammlung des Reiches. Fakten, die Regensburg nicht nur in den Augen von Historikern extrem wichtigmachen, sondern auch zu einem Touristen-Hot-Spot.
Beinahe hätte der Reichstag nicht seinen Weg nach Regensburg gefunden. Über die Folgen dieser „beinahe“ Entscheidung forsch Dr. Bastian Vergnon.
Bei allem Fokus auf die Hauptstadt, stellt sich natürlich auch die Frage, was passiert wäre, wenn Regensburg zum einen oder anderen Zeitpunkt anders behandelt worden wäre. Dr. Bastian Vergnon fragt konkret: „Was wäre, wenn die Stadt keine Reichsfreiheit erhalten hätte?“ Die Gründe, aus denen Regensburg diese Rolle zugesprochen wurden, sind unumstritten: Die Stadt war Hauptresidenz der bayerischen Herzöge und aufgrund des wachsenden Handels über die Donau und nach Böhmen eine der größten Wirtschaftsmetropolen Süddeutschlands. Andererseits ging der Ernennung zur freien Reichsstadt ein langer Machtkampf zwischen den Regensburger Patriziern, den bayerischen Herzögen, den deutschen Königen und den Bischöfen von Regensburg voran, die um die Herrschaftsrechte innerhalb der Stadt stritten – und dieser hätte auch anders ausgehen können.
Faktenbasierte Forschung statt schwammiger Spekulation
Zeugnisse des vergangenen Reichtums sind noch heute sichtbar und nach wie vor Wahrzeichen und Touristenmagneten der Stadt. Im Mittelalter war die Steinerne Brücke der einzige feste Übergang der Donau zwischen Ulm und Wien und natürlich prägt auch der Regensburger Dom noch heute das Stadtbild. Keine Ernennung zur freien Reichsstadt, kein Immerwährender Reichstag, kein historisch extrem bedeutsames altes Rathaus in Regensburgs Altstadt, keine Auszeichnung zum UNESCO Weltkulturerbe. So könnte die Geschichte weitergehen. Dr. Vergnon warnt in seinem Text, dass Spekulationen über mehrere Jahrhunderte hinweg zu schwammig seien, jedoch bleibt unter dem Strich stehen, dass eine Entscheidung, die beinahe 800 Jahre in der Vergangenheit liegt, zu einem gänzlich unterschiedlichen Regensburg geführt hätte.
Bei der Recherche stützt sich Dr. Bastian Vergon auf aktuelle Forschung. Hier geht es direkt zum Ankerpunkte Blog und den Social-Media Kanälen des Projekts: Blog, Instagram & LinkedIn.
Kein Weltkulturerbe, dafür eine sechsspurige Autobahnbrücke durch die Stadt?
Dr. Vergnon untersucht in seiner Veröffentlichung insgesamt vier verschiedene Ereignisse, die nicht nur unterschiedliche Nutzen von Alternative History aufzeigen, sondern auch über die Jahrhunderte hinweg verteilt sind. So liegt eine weitere Abzweigung, die Regensburg beinahe um seine historische Altstadt und die Ernennung zum UNESCO Weltkulturerbe gebracht hätte, nur vergleichsweise wenige Jahre zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Regensburg Rufe nach Erneuerung und Renovierung lauter. Man wollte die Stadt attraktiver und zukunftsfähiger machen. Zu dieser Zeit war das heutige Prunkstück „Altstadt“ jedoch eher ein Schandfleck und weit weg von dem Status und Zustand, der heute Scharen von Touristen in die Oberpfalz lockt. Konkret wollte man die Stadt „autofreundlich“ machen. Noch bis vor 50 Jahren mangelte es dem Regensburger Stadtkern an grundlegender sanitärer Infrastruktur und das Bild war geprägt von baufälligen Wohnhäusern. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich weniger verwunderlich, dass damalige Verantwortliche die Zukunft eher im Abriss des Stadtkerns und der Neuausrichtung auf moderne Gebäude, breite Straßen und eine Großzahl an Parkplätzen in Erwägung zogen. Die Frage: „Was wäre, wenn die Stadt die Pläne nach 1978 umgesetzt hätte?“ drängt sich auf, weil die Stadtverwaltung konkrete Pläne für diese Veränderungen hatte: Neben einem inneren und äußeren Straßenring sahen diese für das heutige Weltkulturerbe eine Nord-Süd- und Ost-West-Achse mit einer vier- bis sechsspurigen Autobahnbrücke durch die Altstadt vor. Im Vorgriff auf die Planung liefen in der Altstadt sogar bereits Abbruchsarbeiten.
Was heute unvorstellbar ist, war also bereits dabei, Realität zu werden: Die Folgen werden über die Jahre hinaus schwammiger, klar ist jedoch, dass Regensburg nicht das touristische Standing entwickelt hätte, das es heute besitzt. Die Stadt erhielt mehr Mittel für die Sanierung denkmalgeschützter Gebäude und der anhaltende Widerstand verschiedener Bürgerinitiativen veranlasste viele Regensburgerinnen und Regensburger, die Relevanz und Wahrnehmung der historischen Altstadt zu überdenken. Diese Entwicklung führte 1974 zu einer Abschwächung des Straßenverkehrsplans. 1978 stoppte die Stadtverwaltung den Abriss und Neubau von Gebäuden. Zum Glück für die Regensburger und alle Besucher der Oberpfälzer Metropole.
Wer mehr über Alternative History erfahren will, kann hier den Ankerpunkte Blog von Dr. Vergnon besuchen. In diversen Blogeinträgen beschäftigt sich der Experte mit geschichtlichen Aspekten der ganzen Welt. Im ebenfalls auf Regensburger Nachrichten erschienenen Interview erklärt uns der Historiker, wie er zu seiner Leidenschaft gefunden hat und welche realen Nutzen Alternative History für die Geschichtsforschung haben kann. Den gesamten Artikel gibt es bereits jetzt im aktuellen filter (Mai 2023) oder online zum nachblättern.
Dr. Bastian Vergnon / Lucas Treffer / RNRed