Alternative History: Was im ersten Moment nach Science-Fiction klingt ist weit mehr als nur die Grundlage für Fernsehserien und Romane. Dr. Bastian Vergnon betreibt seit einigen Jahren einen Blog, auf dem er reale Geschichtliche Ereignisse betrachtet und erforscht, wie sich die Welt hätte verändern können, wären die Würfel nur etwas anders gefallen. Das gesamte Interview mit dem Historiker aus dem aktuellen filter Magazin.
Im ersten Teil unseres Artikels durften wir einen Teil von Dr. Bastian Vergons Arbeit veröffentlichen und haben gezeigt, wie sich das Gesicht Regensburgs beinahe dramatisch verändert hätte. Im Interview klärt uns der Experte über die Bedeutung von „Alternative History“ auf und zeigt, warum sie uns so fasziniert und wie sie uns helfen kann, „echte“ Geschichte zu verstehen. Außerdem wirft Dr. Vergnon ein Licht auf konkrete Beispiele aus der Regensburger Geschichte und erklärt, warum Alternative History nichts mit alternativen Fakten zu tun hat.
Herr Vergnon, warum fasziniert uns Alternative History so?
„Alternative History“ beschäftigt sich vereinfacht gesagt mit der Frage „Was wäre, wenn?“. Diese Frage stellen sich viele auch im Persönlichen. Was wäre passiert, wenn ich meine Lebensgefährtin nicht getroffen oder was, wenn ich unser erstes Date in den Sand gesetzt hätte? (lacht) Wie wäre mein Leben verlaufen, hätte ich einen anderen Job ergriffen oder etwas anderes studiert. Die Frage, „was hätte sein können“ begleitet viele Menschen im Alltag. Im geschichtlichen Rahmen sprechen wir natürlich von ganz anderen Dimensionen, aber ich denke, dass die grundlegende Faszination für die Methode die gleiche ist.
Wie kamen Sie dazu, Alternative History zu erforschen?
In der 11. Klasse hat uns unser Geschichtslehrer die Frage gestellt, wie Deutschland heute aussehen würde, wäre die Revolution von 1848 erfolgreich gewesen. Die Märzrevolution war ja eine Bestrebung, die Deutschland demokratischer machen wollte. Ein Erfolg hätte die Geschichte stark beeinflusst. Es wäre mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zum Ersten Weltkrieg gekommen und damit auch nicht zum Aufstieg Hitlers. Diese Überlegungen haben mich schnell angefixt und auch während meines Studiums nicht mehr losgelassen.
Woher kam die Idee zum Blog „Ankerpunkte“?
Während meiner Zeit als Student habe ich mich weiter mit Alternative History beschäftigt und bin im Internet auf ein Forum mit dem Titel „Zeitenschmiede“ gestoßen. Hier wurden damals genau solche Szenarien gepostet, wie mein Geschichtslehrer sie aufgeworfen hat. Anfangs habe ich nur mitgelesen, später aber auch eigene Überlegungen geteilt. Irgendwann ging das Forum dann aufgrund von technischen Schwierigkeiten offline. Lange hat mir selbst das Wissen gefehlt, um meine Leidenschaft im Internet zu präsentieren. Durch meine Arbeit im Bereich Online-Marketing habe ich die nötigen Werkzeuge erhalten und konnte meinen eigenen Blog online stellen. Das war etwa zu der Zeit, nachdem ich gerade meine Doktorarbeit abgeschlossen hatte.
Beinahe wären David und Goliath aus dem Regensburger Stadtbild verschwunden: Dr. Vergnon weiß, warum es nicht so weit gekommen ist. (Bild: kaetana)
Welchen Nutzen kann „Alternative History“ bieten?
Sich zu überlegen, wie Geschichte auch hätte verlaufen können, gibt uns die Perspektive, dass unsere Vergangenheit auch immer Alternativen hatte. Ich kenne auch dieses Phänomen noch aus meiner Schulzeit: Durch unsere Schulbücher und den Aufbau des Unterrichts wirkt es oft so, als ob wir einem festen Weg gefolgt wären. Erst ist etwas passiert, das genau diese Sache bedingt hat, die ein bestimmtes Ergebnis zur Folge hatte. Es wird suggeriert, dass es eine Entwicklung gab und diese alternativlos in ihrem Ablauf war. Für viele spielt das auch in unsere Gegenwart: Früher war alles ganz klar und heute haben wir auf einmal 50.000 Möglichkeiten und wissen nicht wohin oder weshalb. Mit Alternative History können wir zeigen, dass die Menschheit früher auch nicht immer wusste, wohin es geht. Es gab immer Handlungsspielräume und niemand hatte eine Glaskugel, mit der er in die Zukunft schauen konnte.
„Alternative History“ klingt für Uneingeweihte vielleicht schnell nach alternativen Fakten: Wie viel Angst haben Sie davor, mit Verschwörungstheoretikern in einen Topf geschmissen zu werden?
Bisher habe ich es sehr selten erlebt und wurde auch kaum darauf angesprochen. Ich versuche natürlich auch zu vermeiden, mit Verschwörungstheoretikern in Verbindung gebracht zu werden. Für mich war das von Anfang an Teil meiner Überlegungen. Ich verwende deswegen auch lieber die Bezeichnung Alternative History und nicht alternative Geschichte, um keine falschen Assoziationen hervorzurufen. Die Forschung nach dem „Was wäre, wenn“ ist in einer akademischen Form auch eine seriöse Methodik. Ich versuche, mich hier nicht nur rhetorisch abzugrenzen. Auf der Startseite meines Blogs erkläre ich zuallererst was Alternative History ist und sage auch, dass alle, die auf der Suche nach alternativen Fakten oder Verschwörungstheorien sind, bei mir falsch sind. Es geht nicht darum, zu behaupten, was im Geschichtsbuch steht ist falsch und so ist es eigentlich passiert, sondern um fundiertes Spekulieren und das kann nicht bei Atlantis oder der Verschwörung von der Hohlerde enden. Wenn jemand so etwas lesen will, ist er bei mir an der komplett falschen Adresse.
Alternative History dient als Grundlage für Bestseller-Romane wie „The Man in the High Castle“, Filme wie Tarantinos „Inglourious Basterds“ oder auch Videospiele wie die Wolfenstein-Reihe: Warum ist gerade der Zweite Weltkrieg und das Dritte Reich ein so beliebtes Thema? Muss man diese Faszination auch kritisch hinterfragen?
Der Zweite Weltkrieg erzeugt auch gerade deswegen auf den englischsprachigen Raum weiterhin eine so große Faszination, weil das vielleicht der letzte Konflikt war, in dem die Alliierten klar die Guten waren, die gegen ein offensichtlich böses Drittes Reich gekämpft haben. Deswegen ist das Thema ganz anders belegt, als zum Beispiel für uns in Deutschland. Der Zweite Weltkrieg war auch einfach eine historische Abzweigung, die unsere Welt wie kaum ein anderes Ereignis hätte komplett anders entwickeln lassen. Dadurch entsteht auch eine Art morbide Faszination nach der Frage: „Was wäre passiert, hätten die Achsenmächte gewonnen?“. Die Serie „The Man in the High Castle“ greift genau diese Idee auf und zeigt schon sehr deutlich, wie schlimm sich unsere Welt hätte entwickeln können. Leider gibt es natürlich auch Bücher – auch aus Deutschland – die sich mit dieser Idee beschäftigen, weil sie Ansichten aus dem Dritten Reich teilen oder einen alternativen Ausgang des Krieges bevorzugt hätten. Ich will an dieser Stelle aber natürlich auch keinen Beitrag dazu leisten, dass das bekannter wird.
Dr. Bastian Vergon möchte Alternative History auch im akademischen Kontext salonfähiger machen. Hier geht es direkt zum Ankerpunkte Blog und den Social-Media Kanälen des Projekts: Blog, Instagram & LinkedIn.
Wie wählen Sie allgemein „Ankerpunkte“ für Ihre Forschungen beziehungsweise Inhalte für Ihren Blog aus?
Um neue Ansatzpunkte zu finden, lese ich natürlich in erster Linie geschichtliche Werke und suche einen Punkt, bei dem ich schon denke, dass hier die Geschichte realistischerweise anders hätte verlaufen können. Das können Schlachten sein, aber auch Todesfälle von Adligen, Geistlichen oder Personen, die noch sehr wichtig hätten werden können. Gerade im Mittelalter gingen die Lebenserwartungen zum Teil weit auseinander und viele, die später wichtige Herrscher hätten werden können, sind früh verstorben. Wenn also die Blutlinie eines bedeutenden Adelsgeschlechts überraschend endet, ergeben sich in kürzester Zeit die spannendsten Konstellationen, weil Territorien frei werden und Ansprüche erhoben werden. Auch Vertragsverhandlungen oder politische Entscheidungen fallen darunter. Entscheidungen, wie die Tatsache, dass Regensburg zur freien Reichsstadt ernannt wurde und diesen Titel auch behalten durfte, scheinen uns heute selbstverständlich, standen aber lange auf der Kippe. An solchen Punkten will ich ansetzen, aber nur wenn ich weiß, ein anderer Verlauf war realistisch und nicht nur Wunschdenken.
Welche Grundsätze halten Sie bei der Arbeit an einem Blog-Artikel ein?
Man muss schon auch belegen können, dass die Geschichte in diesem Moment auch hätte anders verlaufen können. Alternative History fußt genau wie jede andere historische Arbeit auf seriösen Quellen. Der zweite große Punkt ist natürlich, dass man sich, um fundierte Aussagen treffen zu können, einschränken muss. Das heißt der „Eingriff“ in die Geschichte muss so minimal wie möglich gehalten werden. Wenn ich mich damit beschäftigen will, wie unsere Geschichte verlaufen wäre, wenn Regensburg nicht freie Reichsstadt geworden wäre, dann darf das auch das einzige sein, dass ich ändere. Man könnte sonst in Versuchung geraten, die restlichen Umstände hinzubiegen, um ein möglichst schönes Szenario zu erhalten. Will man einen Roman schreiben, kann das okay sein, will man aber wissenschaftlich arbeiten, muss man auch darauf achten, dass sich historische Figuren nicht plötzlich untypisch verhalten und ihr bisheriges Verhalten an den Tag legen. Man sollte also nicht, nur weil man das witzig findet, Regensburg zum „besseren München“ machen. In diesem Sinne muss man auch aufpassen, dass man nicht die Gegenwart zu sehr in die Vergangenheit zurückspiegelt, also zum Beispiel nicht denkt, Regensburg wäre heute genau wie München, wenn Regensburg damals Hauptstadt von Bayern geblieben wäre.
Alternative History zeichnet ein zum Teil komplett anderes Bild der Vergangenheit, kann aber auch dabei helfen, diese besser zu verstehen. (Bild: StGrafix)
Welche Ziele verfolgen Sie mit dem „Ankerpunkte Blog“? Könnte „Alternative History“ in naher Zukunft ihren Weg an die Universität finden?
Natürlich ist es das Ziel, mit dieser Methodik mehr in den akademischen Bereich vorzustoßen. Weg von dem vorherrschenden Bild, das Alternative History nur als Grundlage für Unterhaltungsmedien betrachtet. Ein Schritt in diese Richtung stellt definitiv auch mein aktueller Artikel dar. In „Die Alternative History der Oberpfalz – Ein Beispiel für mögliche neue Perspektiven auf die Regionalgeschichte“ zeige ich, wie diese Disziplin wissenschaftlich fundiert funktionieren kann. Am kommenden Welterbetag werde ich für alle Interessierten auch einen Workshop abhalten, der die Alternative History vor Ort greifbar macht. Außerdem arbeite ich an einem Canon, um Alternative History einen gesicherten Rahmen zu bieten und anderen Leuten zu erleichtern, in dem Feld wissenschaftlich zu arbeiten.
Im angesprochenen Text beleuchten Sie explizit Alternative History in der Oberpfalz. Wie zeigt der Text den Nutzen von Alternative History und was haben Sie für die Oberpfälzer Hauptstadt herausgefunden?
Der Text zeigt in erster Linie, wie stark Regionalgeschichte, Stadtgeschichte und das große Ganze in Verbindung stehen. Gerade in Regensburg hätten einige Entscheidungen gravierende überregionale Auswirkungen gehabt. Wäre Regensburg zum Beispiel nicht freie Reichsstadt geworden, hätte das Heilige Römische Reich deutscher Nation sicherlich nicht den Reichstag hierher verlegt. Bayern hätte höchstwahrscheinlich eine andere Hauptresidenz bekommen und damit hätte sich nicht nur die Entwicklung der Oberpfalz nachhaltig verändert. Große Teile von dem, was Regensburg heute so attraktiv macht und als Welterbe angesehen wird, hätte die Zeit nicht überdauert oder wäre gar nicht erst entstanden. Man kann mit Alternative History also nicht nur gegensätzliche Verläufe darstellen, sondern dadurch auch vergangene Entscheidungen nachvollziehbarer machen. Ähnliches gilt für das für die Allgemeinheit vielleicht spannendste Beispiel aus dem Text: 1978 plante die Stadt Regensburgs eine „autofreundliche Altstadt“. Überspitzt gesagt, hätte das zu einer Autobahn quer durch das historische Stadtzentrum geführt. Heute wirkt das vielleicht verrückt, beschäftigt man sich allerdings genauer mit den Umständen, in denen diese Pläne gefasst wurden, wird die grundsätzliche Idee klarer.
Das Porta Praetoria kann stellvertretend für die mehrere tausend Jahre alte Geschichte Regensburgs gesehen werden. Heute locken die Überreste der Antike Touristen in die Domstadt, doch es hätte auch anders kommen können. (Bild: Dmitry Chulov)
Betrachtet man dann mithilfe der Alternative History, wie sich Regensburg entwickelt hätte, wären die Pläne trotz Widerstand der Bevölkerung und weiteren Bedenken durchgesetzt worden, schafft es wiederum mehr Verständnis für die schlussendliche Entscheidung, die Pläne trotz fortgeschrittenem Stadium zu verwerfen. So bestand die Altstadt damals zu großen Teilen aus stark baufälligen Gebäuden mit sanitären Problemen und fehlender Infrastruktur. Die Idee, das Alte komplett abzureißen und Platz für Modernes zu schaffen, ist also grundlegend nachvollziehbar. Das spielt auch in einen weiteren wichtigen Punkt hinein: Betrachtet man die aktuelle Politik der letzten Jahre, werden viele Entscheidungen oft als alternativlos bezeichnet. Das war auch früher schon so. Alternative History zeigt, welche Spielräume und Möglichkeiten eigentlich gegeben sind.
Wer mehr über Dr. Bastian Vergnons Arbeit erfahren will, findet unter ankerpunkte-blog.de alle bisher erschienenen Szenarios. Am 04. Juni leitet Dr. Vergnon anlässlich des Welterbetages einen Workshop zur Alternative History der Region. Weitere Informationen und Anmeldemöglichkeiten gibt es auf der Website der Stadt Regensburg.
Lucas Treffer / RNRed